Der Mann, der nichts vergessen konnte
Abschluss seines Resümees. Er verfiel in einen Zustand tiefer Nachdenklichkeit, weil Azam Zardahs Tarnname in seinem Geist einen Kometenschweif hinterlassen hatte. Casim? Er kannte diesen nom de guerre …
Auch Jamila wirkte wie paralysiert, seit Tim ihr vom Einsatz ihres Bruders berichtet hatte. »Die E-Mail – ist sie datiert?«
Er holte sich das betreffende Bildschirmfenster in den Vordergrund. »Ja. Wurde am 3. August 2007 abgefasst.«
Sie erblasste. »Drei Tage vor Karims Tod.«
»Was genau habt ihr da in Boston getrieben?«
»Darüber darf ich nicht reden.«
»War das auch so eine Operation wie unser jetziges Projekt?«
»In welcher Hinsicht?«
»In Bezug auf die Liquidierung von Mitwissern.«
Jamilas Knöchel am Steuer verfärbten sich weiß. »Fängst du schon wieder damit an? Du sagtest, der Verfasser der E-Mail sei anonym.«
»So anonym nun auch wieder nicht. Er schreibt: ›Für den Einsatz bleibt es bei deinem alten Decknamen Casim.‹ So heißt der Bruder von Ali Baba aus den Vierzig Räubern. Und dein Tarnname ist Morgiane, was eine Figur aus demselben Märchen ist. Du hast selbst gesagt, dass nur einer in eurem Team diese Pseudonyme vergibt: Owl. Offenbar ist er ein großer Fan von ›Tausendundeiner Nacht‹.«
Die Beweisführung war offenbar schlüssig genug, um Jamila außer Fassung zu bringen. »Und was willst du damit andeuten?«, zischte sie gereizt ins Mikrofon. »Etwa, dass Owl meinen Bruder nach Boston beordert hat, um Karim umzubringen?«
»Das hast jetzt du gesagt.«
Sie warf ihm einen zornigen Blick zu.
»Dieser Meister aus den beiden anderen Dokumenten – das ist dann ja wohl auch dein Boss, oder?«
»Ja«, erwiderte sie so leise, dass ihre Antwort fast im Lärm des Motors unterging.
»Er war also ein Spion.«
»Natürlich. Das weiß ich schon fast so lange, wie ich ihn kenne. Er hat sich immer mit dem reichen Erfahrungsschatz aus seiner aktiven Zeit gebrüstet.«
»Hat er jemals über seine Einsätze in Berlin gesprochen?«
»Owl redet nicht über Operationen, es sei denn, man gehört selbst zum Team.«
»Bist du dir da sicher?«
Sie plusterte sich auf. »Was soll das jetzt schon wieder heißen?«
»Vielleicht hat dein Boss dich ja über den wirklichen Zweck dieses… ›Projekts‹ im Ungewissen gelassen. Ich bin überzeugt, die Eule treibt irgendein Spiel mit uns.«
»Und ich glaube, du leidest unter Verfolgungswahn, Tim.
Wenn Owl früher als Maulwurf im KGB gearbeitet hat, dann muss er seine Vergangenheit geheim halten, sonst wäre er die längste Zeit ein lebendiger Mann. Ich kenne ihn seit Jahren. Im Job ist Owl knallhart, aber privat ist er ganz anders.«
Von Jamila für einen Psychopathen gehalten zu werden tat Tim weh. Sie sollte ihn lieben und nicht verachten. Für ihn war sie blind, wenn es um ihren Mentor ging, und er machte sich ernstlich Sorgen, mehr um sie als um sich selbst. Betont ruhig antwortete er: »Trotzdem solltest du dir nicht anmerken lassen, was du über ihn weißt. Ich will nicht, dass es dir wie Karim ergeht und wie Zircon und Dr. Lessing. Und wie deinem Bruder.«
Ähnlich wie im englischen Cambridge, so hatte sich auch der Campus von Yale im Laufe seiner mehr als zweihundertjährigen Geschichte unaufhaltsam ausgedehnt, war fortlaufend um neue Colleges erweitert worden, franste dabei aber kaum an den Rändern aus, sondern konzentrierte sich im Wesentlichen auf ein gut einen Quadratkilometer großes Areal im Stadtgebiet von New Haven. Dessen Herzstück war der »Old Campus«, gewissermaßen ein Freilichtmuseum in Sachen Neugotik und Backsteinfassaden, alles hübsch begrünt.
Yale gehörte zur Ivy Leage – zur »Efeuliga«. So bezeichneten die Amerikaner stolz den Reigen ihrer Eliteuniversitäten im Osten des Landes. Die Blätter an diesem Efeukranz der Bildung hatten so wohlklingende Namen wie Harvard, Princeton und Columbia. Geheimgesellschaften gab es an allen diesen Hochschulen, aber keine studentische Verbindung in den Vereinigten Staaten genoss einen Ruf wie Skull and Bones.
Obwohl Tim nicht viel gab auf die Verschwörungsgeschichten, die den Orden abwechselnd als Verbindung von Satanisten oder als zügellose Truppe von Homophilen beschrieben, verspürte er doch eine gewisse Beklommenheit, als Jamila ihm am späten Nachmittag in der High Street Nummer 64 das Tomb zeigte – das »Grab« oder die »Gruft«.
Es war ein düsterer Bunker im graeco-ägyptischen Stil, fast fensterlos, nur ein paar senkrechte, lächerlich
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