Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
schmale Schlitze öffneten sich zur Welt draußen, weniger, um fremde Blicke herein-, als vielmehr, um das darin ausgebrütete Unheil herauszulassen – so zumindest mussten Besucher empfinden, die infiziert worden waren von den vielen sich um diesen Ort rankenden Schauergeschichten. Das Ambiente passte zu dem morbiden Ruf.
    Ein Trio von Giebeldreiecken, jedes getragen von einem Paar kantiger Pilaster, wölbte sich dem Betrachter aus der braunen Sandsteinfassade entgegen. Die äußeren Überdachungen überschatteten je zwei der schon erwähnten Scharten, die mittlere einen kleinen Vorraum mit der Eingangstür. Zu dieser gelangte man nach drei oder vier Schritten auf einem Weg zwischen verwuchertem Grün, das Tim fatal an Grabbepflanzung erinnerte, sowie nach Überwindung von fünf Stufen. Empfindliche Naturen konnten beim Anblick der Gruft leicht depressiv werden, und auch er spürte das Bedürfnis, sein Herz mit einem heiteren Kommentar zu erleichtern.
    »Hübscher Schuppen. Habt ihr schon mal versucht, ihn an die Addams Family zu vermieten?«
    »Geh einfach weiter«, wisperte Jamila. Trotz des bedeckten Himmels trug sie eine dunkle Sonnenbrille sowie eine tief ins Gesicht gezogene Wollmütze.

    »Warum flüsterst du?«
    »Weil man mich hier kennt und weil Mitglieder des Ordens normalerweise gar nicht reden, wenn sie an der Gruft vorübergehen.«
    Tim verlegte sich für eine Weile aufs Schweigen und lief mit Jamila weiter durch die High Street in Richtung Harkness Tower. In ihrem Dunstkreis bewegten sich noch eine Reihe anderer Gestalten über den Old Campus, die sich betont unauffällig benahmen und schwer bewaffnet waren. Er deutete mit dem Daumen über die Schulter, wo ihnen zwei der farblosen Geschöpfe folgten.
    »Steigt die Schutztruppe etwa heute Nacht mit uns zusammen ins Grab?«
    »Noch lauter kannst du das wohl nicht herausschreien«, zischte sie.
    »‘tschuldigung.«
    »Nein. Sie werden die nähere Umgebung sichern und uns warnen, falls die Campuspolizei oder jemand von den Bonesmen aufkreuzt.«
    »Woher wissen wir, dass niemand im T ist?«
    »An der Stellung des Griffs der Haupttür.«
    »Aha.«
    Jamila stöhnte leise. »Die Bonesmen sind von Schlössern besessen – sie nennen sie ›Puzzles‹…«
    »Hört, hört! Entdecken wir da etwa eine Tradition, die unser Oberverschlüssler Thomas Beale gegründet hat?«
    »An der Vordertür«, fuhr sie unbeirrt fort, »befindet sich so ein Puzzle, ein Kombinationsschloss. Es lässt sich nur öffnen, wenn sonst niemand im Tempel ist. Und das erkennt man daran, ob der Türgriff hochgeklappt ist. Ist dies der Fall, muss der Besucher einen verborgenen Summer betätigen und sich mit einem Passwort authentifizieren. Bist du jetzt zufrieden?«
    »Wie heißt die Parole?«

    Sie ignorierte die Frage und machte stattdessen eine vage Geste. »Lass uns einfach arbeitsteilig vorgehen, Tim: Ich bringe dich rein und wieder raus. Für die Erleuchtungen bist du zuständig.«
    »Gibt’s da drinnen eigentlich elektrisches Licht, oder benutzt ihr immer noch Kerzen?«
    Sie mahnte ihn mit einem strafenden Blick ab. »Ich hab genug gesehen. Fahren wir ins Hotel und ruhen uns etwas aus.
    Heute Nacht müssen wir hellwach sein.«

    Tim trottete stumm hinter Jamila her wie ein begossener Pudel.
    Das war durchaus wörtlich zu verstehen – ein feiner Sprühregen hatte ihn von oben bis unten benetzt. Im übertragenen Sinn traf es aber auch zu, weil sie ihm vor Beginn der Operation »T« noch einmal zu verstehen gegeben hatte, wer das Kommando führte: »Wenn du auch nur Piep sagst, bevor ich es dir erlaube, brechen wir den Einsatz ab.«
    Wenn er schon nichts zu sagen hatte, besaß er nun wenigstens einen eigenen Decknamen. Spontan war ihm »Adam Riese«
    eingefallen. Er fand, das passte zu einem deutschen Rechenknecht.
    Es war etwa halb drei Uhr in der Nacht, als sie von der Chapel Street kommend in die High Street einbogen und vor ihnen die Gruft auftauchte. Die beiden NSA-Agenten in ihrem Schlepptau blieben zurück. Andere versteckten sich in den Schatten rund um das Ordenshaus von Skull and Bones. Jamila trug ein federleichtes Funkgerät, zu dem auch Ohrstöpsel und ein winziges Mikrofon an ihrem Kragen gehörten. Wenn Gefahr im Verzug war, würden sich die Späher draußen melden. Tim machte sich keine Illusionen darüber, dass die »unsichtbaren« Männer noch zu einem anderen Zweck da draußen im Dunkel lauerten: Um seine Flucht zu verhindern.

    Owl hatte an alles gedacht.
    Sie

Weitere Kostenlose Bücher