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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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näherten sich dem kurzen Wegstück, das zum Haupteingang führte. Als sie es erreicht hatten, warf Jamila nur einen Blick zur Tür. Offensichtlich wollte sie sich an der Stellung des Griffes vergewissern, dass niemand in der Gruft war. Danach lief sie einfach weiter. Jedoch nur ein Paar Schritte weit. Dann bog sie im rechten Winkel nach links ab.
    Tim rief sich den Grundriss des Gebäudes in den Sinn. An der Nordostseite führte eine Treppe zu einem Nebeneingang; von dort gelangte man buchstäblich durch die kalte Küche in die Gruft. Aber auch diese Möglichkeit ließ Jamila aus. Sie lief einfach weiter an der Nordflanke des Gebäudes entlang in Richtung Garten.
    Tim erinnerte sich, dass der große Gegenspieler der Loge 322, der Orden der Akte und Klaue, durch ein Kellerfenster an der Rückseite der Gruft eingedrungen war, dieses hatte man jedoch später versiegelt, um potenzielle Nachahmer vor die Wand laufen zu lassen. Wo also verflixt noch mal wollte Jamila hin? Er war drauf und dran, die angeordnete Funkstille zu brechen.
    Das Gebäude blieb zurück. Jamila hielt geradewegs auf zwei riesige Schatten zu, die sich aus dem Halbdunkel des Durchgangs erhoben. Beim Ausspionieren der Gegend am Nachmittag hatten sich diese Zyklopenfinger als Türme in Tims Gedächtnis eingetragen. Jamila meinte, sie seien einst Teil der Alumni Hall gewesen. Die »Halle der Ehemaligen« sei aber abgerissen und nur die Türme an dieser Stelle wieder aufgebaut worden, in einer Flucht mit der Nordmauer des Ordenshauses.
    Am Fuße des ersten Turms blieb Jamila vor einer massiven Holztür stehen und zog aus der Manteltasche einen Ring hervor, an dem ein ganzer Satz von Schlüsseln klirrte. Sie wählte einen aus und verschaffte ihnen damit Zugang zu dem Bauwerk.
    Tim trat durch die Tür, sie fiel hinter ihm zu, der Schlüssel klapperte im Schloss, dann umgab ihn völlige Schwärze. Mit einem Mal stieg ihm der Duft von Jamilas Parfüm in die Nase, und er spürte sogar ihren Atem. Sie musste ihm ganz nahe sein. Einem Impuls folgend hob er die Hand und stellte sich vor, wie es wäre, ihre samtene Wange zu streicheln. Plötzlich flammte ein Licht auf. Jamilas Leuchtdiodentaschenlampe.
    »Was tust du da?«, fragte sie streng. Seine Hand schwebte nur einen Fingerbreit vor ihrem Gesicht.
    Rasch ließ er sie fallen. »Darf ich reden?«
    »Ja.«
    »Nichts.«
    »Was?«
    »Ich tue nichts. Obwohl ich schon gerne gewollt hätte.«
    Sie richtete den Lichtfinger ihres Strahlers auf Stufen, die in die Tiefe führten. »Wir müssen da runter.«
    Wieder ging sie voran. Die Wendeltreppe führte vier oder fünf Meter in die Tiefe. Mit jeder Stufe wurde die Luft kühler und feuchter. Schließlich standen sie vor einer weiteren Tür, diesmal aus Eisen; auch dazu besaß Jamila den richtigen Schlüssel.
    »Du bist gut ausgestattet«, bemerkte Tim.
    »Während meiner neun Monate als Ritterin des Ordens hatte mir Owl geraten, mich für die Zukunft abzusichern.«
    »Also war er doch in der Gruft.«
    »Nein. Ich hatte den Bund sicher versteckt und erst gestern wieder hervorgeholt.«
    Fast lautlos öffnete sich die Tür.
    »Die Angeln werden wohl regelmäßig geölt«, stellte Tim fest.

    »Wenn Ehemalige von einer gewissen Wichtigkeit ihr altes Ordenshaus besuchen, wollen sie dabei nicht gerne fotografiert werden. Deshalb meiden sie den Vordereingang und kommen hinten rein. So wie wir. – Da geht’s lang.« Sie deutete in einen unterirdischen, mit Backsteinen ausgemauerten Gang.
    Nachdem beide den überwölbten Tunnel betreten hatten und die Eisentür zugezogen, aber nicht verschlossen war, ging es etwa fünfzehn Schritte weiter geradeaus, dann scharf links, und nach etwa vier Metern kam wieder eine Tür.
    »Noch ein Puzzle«, seufzte Tim.
    Leise antwortete sie: »Ja, aber dieses öffnet uns den Tempel.«
    Sie bemühte einen dritten Schlüssel, zog die Tür auf und richtete ihren LED-Strahler auf eine weitere Treppe.
    Tims Gedächtnisarchivar warf ihm eine Erinnerung ins Bewusstsein: Er sah sich beim Betreten der Bibliothek von Cambridge. Auch dort hatte ihm jemand Zugang zu einem Gebäude verschafft, in dem er eigentlich nicht hätte sein dürfen. Die Schrecken dieser Nacht würden ihn ewig verfolgen. Was erwartete ihn wohl hier, an einem Ort, dessen Name allein schon unheilschwanger war?
    Ein heller Lichtstrahl traf ihn mitten ins Gesicht, und Jamilas Stimme fragte von der Treppe her: »Kommst du? Oder hast du plötzlich Skrupel?«
    Er schüttelte seine düsteren

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