Der Mann, der nichts vergessen konnte
ausgedacht haben.«
»Könnte der kuriose Name nicht denselben Ursprung haben wie dieses teutonische Ambiente? Ich sehe Beale und Russel förmlich vor mir, wie sie in einer ähnlichen Gruft in Berlin sitzen, an ihrem Brandy nippen, und der Alte sagt zum Jungen:
›Ich habe einen Batzen Zaster. Gründe damit eine Gesellschaft, die unserer gemeinsamen Sache dient.‹«
Anstatt zu antworten, richtete Jamila ihre Taschenlampe auf eine Tür neben dem Tunnelaufgang. »Da geht’s in die Bibliothek.«
Tim folgte ihr über ächzende Dielen in einen weiteren Saal mit blutroter Tapete, der in seinen Dimensionen dem Dining Room in nichts nachstand. Zur Bequemlichkeit der Besucher waren wuchtige Möbel aufgestellt. Unter einer Couch lag ein Socken.
Jamila ließ ihren Lichtfinger über die Bücherregale streichen.
»Hier steht jede Publikation, die je ein Bonesman oder eine Boneswoman verfasst hat.«
Tim schüttelte den Kopf. »Damit vergeuden wir nur unsere Zeit. Was ich suche, muss älter sein, aus den Anfängen des Ordens.«
»Manche der Bücher hier sind älter als die Vereinigten Staaten.«
»Zeig mir erst mal, was euer Boodle noch so zu bieten hat.«
Sie wandte sich einer Tür gegenüber der Fensterwand zu und führte ihn ins Main Foyer, eine Eingangshalle mit dunkler Holzdecke. Nachdem sie einen Schalter betätigt hatte und einige Leuchter ein eher diffuses Licht verbreiteten, deutete sie auf einen dicken grünen Vorhang vor der Fronttür. »Da dringt nichts durch, was uns verraten könnte. Du kannst deine Taschenlampe ausschalten.«
Tim kam ihrer Aufforderung nach und ließ seinen Blick durchs Foyer schweifen. Wenn Jamila bemerkte, dass irgendeine Absonderlichkeit seine Aufmerksamkeit erregte, gab sie Erläuterungen, so etwa bei dem Tisch, auf dem ein echter menschlicher Schädel mit einem Loch in der linken Schläfe sowie gekreuzte Knochen lagen, umgeben von fünfzehn Bilderrahmen mit den Fotografien der aktuellen Ritter von Skull and Bones. Über einer Tür hing ein Schild mit der Nummer 324 – viele Räume der Gruft seien dieserart gekennzeichnet, erklärte Jamila. Diverse Souvenirs aus den Kriegen, in welchen Bonesman für ihr Vaterland die Knochen hingehalten hatten, waren zu sehen. In einem Gemälde an der Wand tanzten Skelette. An einer anderen hing ein Schwarzes Brett für Mitteilungen. Daneben war ein Safe eingelassen.
»Ich könnte ihn öffnen«, erbot sich Jamila.
In einem Bericht über den Einbruch des Ordens der Akte und Klaue hatte Tim von dem Stahlschrank gelesen. Die Eindringlinge waren überzeugt gewesen, darin so etwas wie eine Verfassung zu finden, eine Erklärung der gemeinsamen Ziele von Skull and Bones, obwohl niemand je etwas über ein solches Dokument, geschweige denn über seinen Inhalt erfahren hatte. Doch alles, was die Klauen aus dem Stahlschrank klaubten, waren ein paar Schlüssel und eine halbvolle Karaffe mit Whiskey. Er schüttelte den Kopf. »Was ich suche, ist eher von der Art da.« Er zeigte zu einem Bord.
Darauf stand ein silbernes Tablett mit der Aufschrift Memento mori.
›»Bedenke, dass du sterben musst‹«, übersetzte sie frei die lateinischen Worte.
Er schüttelte unwillig den Kopf. »Das habe ich jetzt gerade noch gebraucht. Was gibt’s auf dieser Etage noch?«
Sie zeigte auf einige Türen. »Bad, Garderobe mit der Küche dahinter, zwei kleinere Aufenthaltszimmer…«
»Darf ich sie sehen?«
Sie durchquerte die Halle in Richtung High Street, stieß beide Türen auf und wies mit der Hand hindurch. »Bitte, der Herr.«
Einer der Räume war mit chinesischen Paneelen verkleidet, der andere mit Brüsseler Spitze. Als Leitthema hatten die Einrichter auch hier – und offenbar im ganzen Gebäude – den Tod gewählt, ob nun im allgegenwärtigen Logenlogo oder in der unerschöpflichen Vielfalt von Dekorationsstücken, zumeist Andenken Ehemaliger. Bald beschlich Tim ein Gefühl der Hilflosigkeit, weil er sich zwar all die makabren Details durchaus merken, sie aber nicht richtig einordnen konnte.
Manche eher harmlose Souvenirs würdigte er kaum eines Blickes – den Buddha, die Demosthenesstatuetten, den Samowar, die Ritterrüstung, den ausgestopften Elchkopf –, andere unterzog er einer gründlichen Begutachtung, so etwa die Handknochen eines Mönchs.
»Das bringt alles nichts«, fasste er seine Eindrücke zusammen.
»Ich könnte dir hier unten noch…« Sie schüttelte den Kopf.
»Nein.«
»Was?«, hakte er nach.
»Es gäbe da noch ein Zimmer, aber ich
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