Der Mann, der nichts vergessen konnte
werde das Monument mehrmals ablichten und zwischendurch essen gehen) und strebte in gelöster Stimmung zu den Fahrstühlen.
Tim presste sich in eine Nische und wartete, bis das Stockwerk geräumt war.
Als er endlich die Tür seiner Suite erreichte, brachte er vor Zittern kaum die Schlüsselkarte in den Schlitz. Das Klicken des elektronischen Schlosses ließ ihn aufatmen. Er stürzte ins Zimmer, schloss die Tür hinter sich und atmete befreit auf.
Geschafft!
Die aus zwei Räumen bestehende, einhundertdreißig Quadratmeter große »Linden Suite« war ein Balanceakt aus Moderne und Klassik, ein Dialog aus rotbraunem Holz, hellem Parkett und sandfarbenen Textilien, alles sehr edel, aber nicht unbedingt der letzte Schrei. Das Interieur wirkte wie das Musterzimmer eines Möbelhauses, was Tim als höchst erstrebenswerten Zustand betrachtete. Er litt unter Ordnungszwang. Echtes Wohlbefinden stellte sich bei ihm nur ein, wenn um ihn herum alles blitzblank und fein säuberlich aufgereiht war. Der rechte Winkel verkörperte für ihn den Inbegriff der Gemütlichkeit. Präzise Zeitpläne verliehen seinem Leben zusätzliche Stabilität. Ohne solche festen Strukturen wurde er schnell zum Nervenbündel.
Im »Living Room«, so der Hotelprospekt, setzte er sich in einen der hochlehnigen Sessel und überlegte eine Weile, wie er das zugeklebte Kuvert aufbekommen sollte. Es einfach aufzureißen widerstrebte ihm. Schließlich stand er wieder auf, ging ins Bad, entnahm seinem achtzehnteiligen Necessaire eine Nagelfeile, öffnete damit akkurat den Umschlag, steckte das zweckentfremdete Werkzeug ins Lederetui zurück, begab sich erneut ins Wohnzimmer, setzte sich in den Sessel und widmete sich dem Umschlag.
Äußerlich war er unspektakulär: Luftpost, britische Briefmarke, Poststempel unleserlich, abgesandt von der Cambridge-Universität – Tim bekam ständig Post von den angesehensten Forschungsinstituten aus aller Welt. Sollte er sich überhaupt mit dem Inhalt beschäftigen? Er sah auf die Armbanduhr. In exakt siebenundzwanzig Minuten begann die Pressekonferenz. Immerhin
eintausendsechshundertundzwanzig Sekunden. Tim entnahm dem Kuvert zwei zusammengefaltete Bogen.
Der obere enthielt eine – ziemlich ungewöhnlich – handschriftliche Nachricht auf dem Briefpapier der Faculty of Asian & Middle Eastern Studies der Universität von Cambridge. Die Mitteilung war überraschend kurz:
Lieber Dr. Labin, haben Sie je Ihre Grenzen ausgelotet? Ich kann Sie dorthin führen.
Behalten Sie das, was Sie auf der nächsten Seite sehen, für sich und sprechen Sie auch mit keinem über die Lösung des alten Rätsels. Ich zähle auf Ihre Verschwiegenheit. Jede Indiskretion könnte für uns beide gefährlich sein.
Gefährlich? Die abschließende Warnung kam Tim wie eine Finte vor. »Immer auf die Drohungen des Gegners achten«, lautete eine der Schachprinzipien. Vermutlich wollte ihn der Unterzeichner des Briefes, ein gewisser Professor Zircon Afsahi, damit nur zum Stillschweigen bewegen. Oder er winkte mit der »verbotenen Frucht« in der nicht ganz unberechtigten Annahme, damit die Neugier des Empfängers zu wecken.
Unbestreitbar war es dem Professor mit nur wenigen Worten gelungen, Tims Interesse zu wecken. Nicht so sehr durch die bedrohlich klingende Schlussformel, die hielt er nur für ein taktisches Manöver. Vielmehr hatte der Orientalist an seine größte Schwäche appelliert, die ständige Suche nach neuen geistigen Herausforderungen. Dieser Afsahi war auf Draht, das musste man ihm lassen.
Offenbar kannte er die einschlägigen Veröffentlichungen über Tim Labin, »den König der Genies«. Nicht nur in den Fachzeitschriften der Gehirnforscher, sondern auch in populärwissenschaftlichen Magazinen hatte man sich erschöpfend mit der Frage beschäftigt, wie »der punktuelle Speicherausfall des Timputers zu beheben« sei. Einige Experten setzten auf psychotherapeutische Langzeitbehandlungen, andere versprachen ihm Heilung durch mentale Stresssituationen. Aus dem Lager der Letzteren kam der Rat: Wenn Sie sich nur nahe genug an den Abgrund Ihrer geistigen Möglichkeiten heranwagen, dann werden Sie auch dessen dunkle Tiefen erblicken können. Bisher waren alle diesbezüglichen Versuche erfolglos geblieben.
Tim legte den oberen Bogen zur Seite und warf einen Blick auf das zweite Blatt. Es war ausschließlich mit Ziffern bedeckt, durch Kommata in einzelne Zahlen unterteilt. Eine Ordnung oder gar eine Sortierung konnte er nicht erkennen.
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