Der Mann, der nichts vergessen konnte
Muster etwas Vertrautes zu sehen. Doch ehe er das imaginäre Gefunkel deuten konnte, eilte schon Afsahi zum Tisch und fegte die bizarre Stellung vom Brett.
»Bitte entschuldigen Sie die Unordnung, Dr. Labin. Ich spiele regelmäßig jeden Montagabend Fernschach mit einem Bekannten in Karachi. Unglücklicherweise steht am Dienstagmorgen Putzen auf Rose’ Wochenplan, und dann bringt sie mit ihrem Staubwedel allzu oft das Brett durcheinander.«
»Um mit den Figuren nachher dieses kleines Happening zu veranstalten?« Tim deutete auf die leere Spielfläche.
»Ja. Natürlich kann sie sich an die ursprüngliche Stellung nicht mehr erinnern und lässt sich bei ihrer Rekonstruktion, wie Sie ganz richtig bemerken, eher von künstlerisch-
ästhetischen Gesichtspunkten leiten. Daher auch die Muscheln und Schnecken.«
Das liebte Tim so an den Engländern. Jeder hatte irgendeinen Spleen.
»Wussten Sie eigentlich, woher das Schach seinen Namen hat?«, wechselte Afsahi das Thema.
»Vom persischen schah, das eine Kurzform des Herrschertitels Schah-in-schah ist, was ›König der Könige‹ bedeutet. Deshalb nennt man es auch das ›Spiel der Könige‹.«
Der Professor schmunzelte. »Ich sehe schon, wer bei einem Fernsehquiz mal eben schnell zehn Millionen Dollar abräumt, lässt sich so leicht nicht mattsetzen. Aber als alter Perser musste ich Sie das fragen – schon aus Gründen der Traditionspflege. Würden Sie mir die Ehre erweisen und bei Gelegenheit eine Partie mit mir spielen? Ich habe schon ein paar kleinere Turniere gewonnen.«
»Gerne. Mit oder ohne Muscheln?« Tim hatte mit seiner Bemerkung nur zur Auflockerung der Atmosphäre beitragen wollen, doch das erwartete Lächeln bei Afsahi blieb aus. Eher sah er bestürzt aus.
»Wie wär’s, wenn ich Ihnen, solange wir auf Dr. Jason warten, den Grund Ihres Hierseins zeige«, wechselte er das Thema und schritt, als könne er die Nähe des Spielbretts nicht länger ertragen, mit deutend ausgestreckter Hand nach links, wo sich an der Wand ein hochlehniger Stuhl sowie ein mit Büchern und Papierstapeln beladener Mahagonischreibtisch im Chippendalestil befand. Afsahi nahm von der mit grünem Leder bezogenen Arbeitsfläche zwei Papierbogen, reichte sie seinem Gast und sagte in feierlichem Ton: »Blatt I und III der Beale-Chiffre.«
»Ich habe sie schon im Internet gesehen«, erwiderte Tim, was für ihn so viel bedeutete wie: Ich kenne sie auswendig.
Entweder war Afsahi sich dieses Umstands nicht bewusst, oder er ignorierte ihn. »Wie Sie sehen, finden sich auch auf diesen beiden Blättern ausschließlich Zahlen. Thomas J. Beale war Cowboy und kein Kryptologe. Deshalb dürfte er sich die Mühe wechselnder Verschlüsselungsverfahren erspart haben.«
»Wäre denkbar. Sie sollten andere Möglichkeiten aber nicht von vornherein ausschließen. Wenn seine Hinterlassenschaft wirklich so brisant ist, wie Sie annehmen, dann könnte er sich Hilfe von Leuten geholt haben, die mit den besten Verschlüsselungen seiner Zeit vertraut waren. Vielleicht kannte er Leute vom Militär.«
»Sie haben natürlich recht. Im Verbergen von Informationen war man schon früher sehr einfallsreich, wenn ich allein an die Geheimtinte denke, die nur bei spezieller Behandlung sichtbar wird. Auch in der italienischen Diplomatie des Mittelalters hat man raffinierte Geheimschriften benutzt. Aber die klassischen Methoden aus der Antike und den nachfolgenden Jahrhunderten fallen hier zum Teil schon wegen der von Beale benutzten Zahlenreihen weg.«
»Nicht, wenn er ein Codebuch benutzt hat. Die waren seit der Renaissance bis weit ins 19. Jahrhundert sehr beliebt.« Tim meinte ein Verzeichnis von Buchstaben, Silben, längeren Wortbestandteilen oder sogar ganzen Begriffen und Wendungen, die im Zuge der Verschlüsselung durch kurze Codes ersetzt wurden, meist Zahlen, gelegentlich aber auch mehr oder minder zufällige Wörter.
Afsahi wiegte zweifelnd den Kopf. »Darüber haben die Experten im Team natürlich ausführlich diskutiert. Wir wollen diese Möglichkeit nicht ausschließen, halten sie aber derzeit eher für unwahrscheinlich. Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass Ihnen ein Finderlohn winkt, sofern Sie die Beale-Chiffre knacken und wir den Schatz heben?«
»Nein.«
Der Professor nickte gewichtig. »Die Summe würde Sie zu einem reichen Mann machen. Ich weiß nicht, inwieweit Sie Beales Geschichte kennen: Er hatte ja eine Gold- und Silberader entdeckt. 1822 vertraute er einem gewissen Robert
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