Der Mann, der nichts vergessen konnte
ein. »Wo willst du hin?«
»Zu Zircon. Er sollte von deiner Entdeckung erfahren, findest du nicht?«
»Da will ich aber dabei sein.«
Sie eilte weiter. »Tu dir keinen Zwang an.«
»Dann stimmt es also, ich bin mit Jacob Rosenholz verwandt?«
»Ich dachte, das hätte ich gesagt.«
»Wurde ich deshalb für dieses Projekt ausgewählt?«
»Nein, sondern weil du ein Savant bist.« Sie blieb abrupt stehen, seufzte bei geschlossenen Augen und sah Tim wieder an. »Das stimmt nicht ganz. Irgendwie hat deine Abstammung auch damit zu tun.«
»Irgendwie?«
Sie holte tief Luft. »Tim. Unsere Gruppe hier ist nur eine Forschungszelle in einem wesentlich größeren, international verteilten Organismus. Ich habe einen Vorgesetzten, dem ich berichten muss. Er hat mich auch für die Arbeit an der Beale-Chiffre eingeteilt und vorgeschlagen, dich mit der Entzifferung zu betrauen. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen.«
»Wieso nicht? Wie heißt der Mann? Wann und wo kann ich ihn treffen?«
»Mein Boss zieht es vor, anonym zu bleiben. Vorerst jedenfalls.«
Er breitete die Arme aus. »Du tust ja gerade so, als würdest du für den Geheimdienst arbeiten.«
Jamila stob wieder davon. Über die Schulter rief sie zu ihm zurück: »Ich werde doch mit dir nicht über die Strukturen unseres Teams streiten. Glaub, was du willst.«
Zircon Afsahi hielt den Zettel aus Jamilas Ringbuch in der Hand und schüttelte fasziniert den Kopf. »Generationen der klügsten Köpfe haben sich an der Chiffre versucht, und Sie lösen das Rätsel in ein paar Tagen. Vergessen Sie den Ärger über unsere Sicherheitsmaßnahme, Tim, und genießen Sie Ihren Triumph.« Damit war das Thema Jacob Rosenholz für den Professor offenbar abgeschlossen.
»Die anderen Namen in Beales Vermächtnis sind übrigens auch ziemlich interessant«, bemerkte Jamila.
Der Dekan blinzelte, als sei er mit seinen Gedanken gerade ganz woanders gewesen. »Ich würde sogar sagen, sie sind sensationell. Thomas Jefferson, der dritte Präsident der USA, wurde von seinem Namensvetter als Hüter der unechten Unabhängigkeitserklärung eingesetzt. Das kann ja nur bedeuten, Jefferson hat von der Fälschung gewusst.«
»Sofern Beale die Wahrheit sagt. Vor einem Gericht hätte dieses Dokument nur wenig Beweiskraft. Könnten wir allerdings seinen Schatz finden, sähe die Sache womöglich anders aus.«
»Das bedeutet, alles geht zunächst weiter wie gehabt.« Afsahi wandte sich wieder an Tim. »Trotzdem Gratulation, mein Lieber. Was Sie da entziffert haben, ist sehr ermutigend.«
Ermutigend? Typisch englisches Understatement, dachte Tim. Es war epochal. Aber auch schockierend und aufregend, inspirierend und… irgendwie verschwörerisch. »Haben Sie überhaupt schon die anderen Namen angesehen? Der berühmte Dichter Harry Heine. Du meine Güte! Das hätte ich nicht gedacht.«
Jamila schmunzelte. »Habe ich da das Genie gerade bei einem Fehler ertappt? Du meinst doch sicher den Publizisten Heinrich Heine.«
»Genau den. Vermutlich bist du bei den deutschen Literaten nicht so gut bewandert wie in amerikanischer Geschichte.
Heinrich Heine war, wie ja auch ich, ein Jude. Erst 1825 – also kurz nachdem Beale sein Vermächtnis verfasst hatte – ist er zum christlichen Glauben konvertiert und hat den Vornamen Heinrich angenommen.«
»Und wer ist Rahel Varnhagen von Ense?«, wunderte sich der Professor.
»Eine Frau mit illustrem Bekanntenkreis: Schiller, Brentano, Chamisso, die Gebrüder Schlegel, sogar Goethe soll ihr in Frankfurt seine Reverenz erwiesen haben. Ihr Name Rahel Levin ist Ihnen vielleicht eher bekannt. Sie war Jüdin, ist nach ihrer Heirat aber zum Protestantismus übergetreten. In ihren literarischen Zirkeln verkehrten viele angesehene Persönlichkeiten der Zeit. Ihren ersten Salon, die ›Republik des freien Geistes‹, musste sie nach dem Einmarsch Napoleons in Berlin schließen. Im später eröffneten zweiten hat sich auch der junge Heine bis 1823 oft sehen lassen.«
»Das fällt genau in die Zeit, als Beale nach Deutschland floh.«
Tim nickte. »Nach allem, was ich heute erfahren habe, würde es mich nicht wundern, wenn Amos Bethel alias Thomas Beale durch den Dichter oder durch Jacob Rosenholz in die Berliner Szene jüdischer Künstler und Wissenschaftler eingeführt wurde.«
»Vielleicht hat der alte Haudegen sie mit seinen Abenteuergeschichten unterhalten«, warf Jamila ein.
»Oder mit seinem Reichtum beeindruckt«, fügte Afsahi lakonisch hinzu.
»Das eine wie
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