Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
katzengleich in geduckter Haltung einen Schritt auf den Bulligen zu. Tim rechnete mit einem fürchterlichen Zusammenprall. Doch seine Verteidigerin hatte anderes im Sinn. Der Schwung des Angreifers wurde auf wundersame Weise zu ihrer Kraft. Als wäre Mr Pain nur eine Strohpuppe, flog er über Tim und die Balustrade hinweg, prallte auf die steile Ziegelfläche, die sich für den schweren Körper in eine Schanze verwandelte und ihm noch mehr Schwung verlieh, wodurch er förmlich über die Dachkante katapultiert wurde und in die Tiefe stürzte. Der Todesschrei von Mr Pain verstummte jäh, als er auf das Giebeldach der Eingangshalle stürzte.
    Mit einem Mal war es auf der Plattform beängstigend still.
    Tim starrte – das rote Licht leuchtete inzwischen wieder – in das wild verzerrte Gesicht seiner Retterin. »Wer bist du?«, flüsterte er.
    Ihre Miene entspannte sich. »Eine Historikerin aus New Haven.«
    »Eine Historikerin, die drei Killer im Handumdrehen unschädlich macht?«
    Sie ließ sich vor ihm auf die Knie sinken, um seine Blessuren im Gesicht zu untersuchen. Behutsam betastete sie seine angeschwollene Wange und erklärte: »Ich habe einen Kurs in Selbstverteidigung absolviert.«
    Er stieß ein gicksendes Lachen aus. »Schon wieder ein Kurs.
    Bist du so eine Art Volkshochschul-Junkie?«
    Jamila sah ihn verständnislos an.
    Ärgerlich schob er ihre Hand zur Seite. »Lass mich in Ruhe.
    Du schadest meiner Gesundheit.«

    »Ich?«, schnappte sie. »Wenn ich ein paar Sekunden später gekommen wäre, dann würdest jetzt du da unten liegen und nicht dieser Fettkloß.«
    »Mag sein. Aber auch wenn ich ein Gefühlskrüppel bin, hättest du mir nicht diese alberne Historikerfarce vorspielen brauchen.«
    Einmal mehr erstarb das rote Licht.
    »Ich bin Historikerin, Tim«, beharrte sie.
    »Ja, so wie ich Schachweltmeister bin. Wir beide spielen der Welt etwas vor, um unser wahres Ich zu verbergen. Eines ist gewiss: Ohne dich müsste ich mich nicht wie ein geprügelter Hund fühlen.«
    Das rote Licht ging wieder an.
    Sie hatte im Dunkel ihren Rücken gestrafft. Die Hände auf den Oberschenkeln, kniete sie aufrecht vor ihm, und ihre großen Augen musterten ihn intensiv. Ein geheimnisvoller Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Gerne hätte Tim ihn zu deuten gewusst. Mit einem Mal nickte Jamila, als sei sie zu einem schwierigen Entschluss gelangt.
    »Ich habe Hilfe gerufen, Tim«, sagte sie leise. »Gleich wird es hier wimmeln wie im Taubenschlag. Deshalb muss ich mich kurz fassen. Hör mir gut zu: Ich habe dich nicht belogen, was meine Arbeit als Historikerin in New Haven anbelangt. Ich bin richtig gut darin. Während meines Studiums in Yale haben sich die angesehensten Studentenverbindungen darum gerissen, mir auf die Schulter zu klopfen. Noch bevor ich meinen Abschluss mit summa cum laude hingelegt habe, ist die NSA an mich herangetreten und hat mich rekrutiert. Seitdem benutze ich die Legende der Wissenschaftlerin, um bei Kongressen und anderen akademischen Auslandseinsätzen wie diesem hier nachrichtendienstlich aktiv zu sein.«
    Er riss die Augen auf. »Du bist eine Spionin? Jetzt ist mir klar, warum du wie Brucilla Lee über das Dach getanzt bist.«

    »Was du da gesehen hast, war kein Kung-Fu, sondern Thaing Byong Byan – jedenfalls das meiste davon. Es ist ein burmesischer Kampfstil, dem Ju-Jutso sehr ähnlich, auch bekannt als Khu-Kar-Chant.«
    »Und das bringt man einem beim amerikanischen Schnüffeldienst bei?«, fragte Tim ungläubig.
    »Nicht unbedingt. Bei der NSA konnte ich meine Kenntnisse um andere Kampfsportarten erweitern. Man lernt dort viele nützliche Dinge. So zu lügen, dass selbst ein Lügendetektor es nicht merkt, gehört auch dazu. Aber lass uns ein andermal darüber reden. Mein Leben ist zu kompliziert verlaufen, um dir hier und jetzt alles zu erklären. Ich möchte nur, dass du mir vertraust, Tim. Ich bin nicht deine Feindin.«
    Ein Teil von ihm war angewidert von der Lügnerin, die ihn zweieinhalb Wochen lang hinters Licht geführt hatte, aber der andere fühlte sich immer noch zu ihr hingezogen. Lauernd fragte er: »War Zircon auch ein Agent?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Jedenfalls keiner von uns. Ich bin auf ihn angesetzt gewesen. Der sanfte Professor hatte es faustdick hinter den Ohren. Er gehörte hier in Großbritannien einer ultrarechten Gruppierung an, die sich New Loyalists nennt. Diese ›Neuen Loyalisten‹ versuchen die jetzige britische Regierung mit allen möglichen Winkelzügen zu

Weitere Kostenlose Bücher