Der Mann, der nichts vergessen konnte
geschickte, kluge und erfinderische Sklavin, welche die größten Schwierigkeiten zu überwinden wusste.« Nach Karims Tod hatte sie sich oft gefragt, ob Kogan sie trotz aller Freundlichkeit im Stillen als seine Leibeigene betrachtete.
Früher waren ihr nie solche Gedanken gekommen. Sie hätte sich für Kogan ein Bein ausgerissen. Im vergangenen Jahr war diese bedingungslose Hingabe jedoch von Zweifeln ausgehöhlt worden. Der USB-Stick, den sie in jener furchtbaren Nacht unter Karims Schreibtisch gefunden hatte, war immer noch unentschlüsselt.
»Willst du, dass ich dich ablösen lasse?«, erkundigte sich Owl besorgt.
»Ich bin schon das letzte Mal davongelaufen. Macht sich auf die Dauer nicht gut in meiner Personalakte. Ich stürze mich einfach in die Arbeit. Das reinigt den Geist von düsteren Gedanken.«
»Hat er das gesagt? Unser Schachweltmeister?«
»Wie kommen Sie darauf?« Sie unterdrückte ein Frösteln.
Die »Sehfähigkeit« der Eule war ihr manchmal nicht geheuer.
»Weil es zu ihm passt. Du kennst die erste Regel eines Agentenführers: Investiere keine Emotionen in dein Fußvolk, und verliebe dich nie in einen Informanten oder einen Spion.«
»Ich bin nicht in ihn verliebt«, antwortete sie trotzig.
»Das will ich in unser beider Interesse hoffen. Es steht zu viel auf dem Spiel. Du weißt ja, was Ali Baba zu der Sklavin sagte:
›Morgiane, das Erste, was ich von dir verlange, ist unverbrüchliche Verschwiegenheit…‹«
»Haben Sie etwas Neues für mich?«, unterbrach Jamila die ihrer Ansicht nach ungerechtfertigte Ermahnung.
»Zunächst würde mich interessieren, warum du anrufst.«
»Um Ihnen mitzuteilen, dass Dr. Labin weitermacht.«
»Das ist gut. Sonst noch etwas?«
Sie fasste anhand ihrer Notizen den Obduktionsbericht von Zircon Afsahis Leiche zusammen und berichtete auch über das Gespräch mit Tim. Nachdem sie geendet hatte, blieb es einige Zeit still in der Leitung.
»Nur gut, dass wir deinem Bruder rechtzeitig auf die Schliche gekommen sind. Er hat uns alle hinters Licht geführt«, sagte Kogan, und es klang wie ein nur widerstrebend abgelegtes Schuldeingeständnis. Dann war wieder diese Autorität in seiner Stimme, der sich kaum jemand zu widersetzen vermochte. »Die Ratten kommen schneller aus den Löchern, als wir erwartet haben. Wir müssen höllisch aufpassen, dass die Lage nicht außer Kontrolle gerät. Bring unser Wunderkind nach Washington. Wenn er in der Kongressbibliothek weiterliest, können wir wesentlich besser auf ihn aufpassen als in England.«
»Sollten wir Dr. Lab in nicht wenigstens fragen, ob…?«
»Unsinn, Morgiane«, fiel er ihr barsch ins Wort. »Eine wichtige Schachregel lautet: ›Ein isolierter Zentrumsbauer fällt nachteilig ins Gewicht.‹ In Cambridge ist der Deutsche für uns nicht kontrollierbar. Das muss geändert werden. Er hat durch die Entschlüsselung des dritten Blatts bewiesen, dass er die in ihn gesetzten Hoffnungen erfüllen kann. Notfalls wird er gegen seinen Willen in die Staaten gebracht. Aber das wird gar nicht nötig sein. Ich glaube, du hast ihn ganz gut im Griff und er wird dich freiwillig begleiten.«
Manchmal fand Jamila die Selbstherrlichkeit ihres Mentors geradezu widerlich, zumal sie ihm gerade Tims Annahmen zum Thema Bauernopfer geschildert hatte. Vermutlich war Emil Kogan sogar ein paarmal zu oft im Außeneinsatz gewesen, um sich noch mit Feinfühligkeit aufzuhalten. Schon um Tim alle Optionen offenzuhalten, entgegnete sie: »Nichts für ungut, Chef, aber wir haben den Code von Blatt III schon vor Jahren geknackt. Das macht Labin für uns nicht gerade unentbehrlich.«
»Das sehe ich anders. Wir sind nur erfolgreich gewesen, weil ich durch die Rosenholz-Dateien auf die Verbindung zwischen Beale und diesem Robert Lemon gestoßen bin, der in London Miltons De Doctrina wiederentdeckt hat. Oder hast du Labin davon erzählt?«
Jamila verdrehte die Augen. »Nein, habe ich nicht. Allerdings war ihm aufgefallen, dass Afsahi das Faksimile der Streitschrift besaß. Merkwürdig, nicht wahr? Können Sie sich das irgendwie erklären, Emil?«
»Bei einem Büchernarren, der zudem noch Professor an Miltons alter Universität ist, würde ich es nicht gerade als Sensation bezeichnen, dass er einen Nachdruck davon besitzt.«
»Und warum hat Azam ihn mitgenommen, ein Buch aus mehr als zweitausend?«
»Vermutlich, weil er ein Verräter ist. Möglicherweise haben wir einen Maulwurf in unserem Team, der ihm das mit dem Milton-Buch gesteckt
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