Der Mann, der nichts vergessen konnte
hat.«
Sie dachte über die Konsequenzen nach. Wenn Emil recht hatte, dann konnten Azam auch andere Dokumente in die Hände gefallen sein. »Könnte… mein Bruder das dritte Blatt der Beale-Chiffre an den Professor weitergegeben haben?
Denkbar wäre doch, dass er Dr. Labin irgendetwas darüber erzählt hat.«
»Was Azam getan hat, weiß ich nicht, aber ich bin überzeugt, der Deutsche hat den Code ohne fremde Hilfe geknackt. Und das macht ihn für uns zur ersten Wahl.«
»Wenn meine Theorie stimmt und Labin bestätigt das durch die Entzifferung des ersten Blattes, wäre er dann nicht eine Gefahr für die nationale Sicherheit?«
»Nur, wenn er redet. Aber das werden wir zu verhindern wissen. Bringe ihn nach Washington, Morgiane. Egal, was es kostet.«
Ohne Gruß legte Kogan auf.
Am Dienstagmorgen kaute Tim lustlos auf einem Blaubeermuffin herum. Er hatte am Vortag nicht so viele Bücher »gefressen« wie sonst. Der Obduktionsbericht von Zircons Leiche hatte ihm den Appetit verdorben. Wie unmenschlich kann ein Mensch sein? Immer wieder war ihm diese Frage durch den Kopf gegangen.
Plötzlich hallte ein enervierendes Klingeln durchs Haus. Tim, aus dunklem Brüten herausgerissen, zuckte erschrocken zusammen. Er hörte, wie Mrs Atkinson zur Haustür schlurfte.
Helle Stimmen hallten zu ihm herein. Dann betrat Jamila das Esszimmer. An ihrem Gesicht konnte Tim sofort erkennen, dass schon wieder irgendetwas vorgefallen sein musste.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Hast du heute schon Frühstücksfernsehen geschaut?«
»Nein. Ich lasse die Glotze lieber aus – zu viele schlechte Programme, die einem das Hirn verkleistern.«
Sie drehte sich zu der Wirtin um, die ihr gefolgt war. »Darf ich den Fernseher einschalten?«
»Nur zu, Dr. Jason. Fühlen Sie sich bei mir wie zu Hause«, sagte Mrs Atkinson.
Jamila lief um den Esstisch herum zu der Anrichte, wo das TV-Gerät stand, schnappte sich die Fernbedienung und drückte auf einen Knopf. Während sich die Flimmerkiste aufheizte, lief sie zu Tim und setzte sich neben ihn.
Auf der Mattscheibe erschien das Kinderprogramm, ein Zeichentrickfilm: Zu lustigen Geräuschen hämmerte ein Vogel einem kleinen Mexikaner das Gehirn aus dem Kopf. Jamila schaltete um.
Ein weibliches Gesicht füllte die Bildschirmfläche: jung, puppenhaft geschminkt und von einer quäkenden Stimme beseelt. Irgendein kommerzieller Sender.
»Müssen wir uns das wirklich antun?«, fragte Tim.
»Warte, gerade beginnen die Morgennachrichten.«
Hinter der Moderatorin erschienen die Worte Breaking News.
Sie las mit ernster Miene von ihrem Teleprompter folgende Nachricht ab:
Der katarische Fernsehsender al-Dschasira strahlte am Sonntagabend erstmals ein Video aus, in dem die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika als Fälschung bezeichnet wird. Ein unbekannter Sprecher verliest in dem Film ein Schreiben, demgemäß der als mathematisches Genie bekannte deutsche Schachweltmeister Tim Labin an der englischen Cambridge-Universität ohne technische Hilfsmittel eines der schwierigsten Rätsel der Neuzeit gelöst hat. Es handele sich dabei um die Entschlüsselung der annähernd 200 Jahre alten »Beale-Chiffre«. Deren Verfasser, ein Amerikaner namens Thomas Jefferson Beale, habe in seinem lange Zeit für unentzifferbar gehaltenen Vermächtnis geschrieben, so die Videobotschaft wörtlich: »Das Geheimnis der unechten Unabhängigkeitserklärung muss solange bewahrt werden, wie dem Wohl der Vereinigten Staaten von Amerika durch die Lüge besser gedient ist als durch die Wahrheit.«
Erst kürzlich hat sich in diesem Zusammenhang die US-amerikanische Historikerin Dr. Jamila Jason zu Wort gemeldet. Sie hält sich derzeit ebenfalls in Cambridge auf und soll den Schachweltmeister bei der Decodierung der Chiffren unterstützt haben. Ihrer Theorie zufolge könnte es sich bei der ursprünglichen Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten um ein Wirtschaftsabkommen gehandelt haben, das den britischen Kolonien auf dem nordamerikanischen Kontinent gegen die Zahlung regelmäßiger Abgaben weitgehende Freiheiten zusicherte. Andere Fachleute halten auf Grund historischer Präzedenzfälle einen Vertrag über eine auf 232 Jahre befristete Selbstverwaltung für die wahrscheinlichere Möglichkeit. Ebenso wie die 99 wurde diese Zahl im 18. und 19. Jahrhundert wegen ihrer Symmetrie mit Ausgeglichenheit und Gerechtigkeit gleichgesetzt, weshalb sie in zahlreichen Vertragswerken Eingang
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