Der Mann, der nichts vergessen konnte
fand. Ähnlich wie 1997 die britische Kronkolonie Hongkong wieder der Souveränität Chinas unterstellt wurde, könnten demnach die USA am 4. Juli 2008 – also 232 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung – an das ehemalige Mutterland zurückfallen. Bisher wurden solche Szenarien von den Politikern belächelt und nicht einmal kommentiert. Auf Grund der jüngsten Erkenntnisse aus Cambridge könnten sie jedoch bald, zumindest formaljuristisch, Wirklichkeit werden.
Die Entdeckung Labins hat nicht nur unter Verschlüsselungsexperten Furore gemacht. Binnen vierundzwanzig Stunden entwickelte sie sich in sämtlichen Medien rund um den Globus zur Nachricht Nummer eins. In Großbritannien meldeten sich die ultrakonservativen Neuen Loyalisten zu Wort und forderten, so ein Sprecher wörtlich, »die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes: Wenn die USA ihre Steuern nicht gezahlt haben, dann wird es höchste Zeit, und wenn ihre Bürger Untertanen Ihrer Majestät sind, dann sollen sie gefälligst vor der Queen das Knie beugen«.
Bisher sind solche reaktionären Meinungsäußerungen die Ausnahme. Ansonsten verströmen die Politiker beiderseits des Atlantiks demonstrative Gelassenheit. Die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten sei inzwischen jahrhundertelange Rechtspraxis, vermeldete Downing Street; irgendein Papier – so es denn tatsächlich existiere – werde daran wenig ändern.
Zur Frage eines Pressevertreters, was denn mit dem Wörtchen »wenig« gemeint sei, wollte sich der Regierungssprecher nicht äußern.
Naturgemäß haben die internationalen Finanzmärkte weniger gelassen auf die Nachricht von möglichen Billionennachzahlungen der USA an das Vereinigte Königreich reagiert. An der Wall Street verlief der Handel gestern so hektisch wie schon lange nicht mehr. Vor allem die Werte einiger Banken und Finanzdienstleister verzeichneten teils dramatische Kursstürze. Finanzexperten sprechen bereits von der »Beale-Krise« und mahnen die Anleger zur Besonnenheit. Der bekannte amerikanische Analyst Dough Goldstein sagte: »Wenn sich auch nur eines der von den Historikern beschriebenen Szenarien als zutreffend herausstellt, dann wäre das für die Weltwirtschaft der Super-GAU.«
Brisant wird die Meldung auch durch die mysteriösen Todesumstände des prominenten Cambridge-Orientalisten Prof. Zircon Afsahi. Wie wir berichteten, wurde die Leiche des Dekans der Fakultät für Orientalische Studien am vergangenen Samstag in seinem Haus aufgefunden. Auch Afsahi gehörte dem Projektteam an, das an der Entschlüsselung der Beale-Chiffre arbeitete. Dass bislang vertrauliche Details der Forschungsergebnisse nur wenige Stunden nach seinem Tod nun ausgerechnet in einem arabischsprachigen Sender veröffentlicht werden, lässt die Ermittlungsbehörden einen terroristischen Hintergrund nicht länger ausschließen. Für das von al-Dschasira am Sonntag ausgestrahlte Video jedenfalls zeichnet ein Kommando mit dem Namen »Aliat Mansube« verantwortlich. Experten vermuten, dass die bisher nicht in Erscheinung getretene Gruppierung dem Umfeld von Al-Qaida zuzurechnen ist.
Weitere Einzelheiten zur Beale-Krise erfahren Sie in unserer Sondersendung um neun Uhr. Es folgen weitere Meldungen des Tages…
Jamila schaltete den Fernseher stumm und drehte sich zu der Wirtin um, die immer noch in der Tür stand. »Ich würde gerne mit Dr. Labin etwas besprechen, Mrs Atkinson.«
Sie lächelte. »Nur zu, tun Sie sich keinen Zwang an.«
»Etwas Vertrauliches.«
»Oh!« Die Witwe zog den Kopf ein und lächelte verschmitzt.
»Bin schon verschwunden. Soll ich die Tür schließen?«
»Das wäre sehr freundlich, Mrs Atkinson.«
Nachdem sich Jamila vergewissert hatte, dass die Wirtin nicht draußen am Schlüsselloch klebte, setzte sie sich wieder neben Tim, deutete mit dem Daumen auf den Fernseher und fragte: »Was sagst du dazu?«
Er konnte sich nur schwer von der Mattscheibe losreißen. Zu unwirklich erschien ihm das Gehörte. »Ich bin geplättet. Das ist jetzt aber nicht so eine Sendung à la Orson Welles, so ein ›Krieg der Welten‹-Report, der sich am Ende als Fernsehspiel herausstellt, oder?«
»Du kannst dir den Sender aussuchen. Sie bringen überall das Gleiche.« Sie schnaubte unwillig. »Wenn sie wenigstens bei der Wahrheit bleiben würden!«
»Hast du schon einmal einen Medienbericht über dich erlebt, der hundertprozentig genau war?«
»Du hast ja recht. Trotzdem finde ich es unverantwortlich, den Eindruck zu
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