Der Mann, der nichts vergessen konnte
entziffern und Beales Schatz heben, können wir uns alle Optionen offenhalten.«
»Wozu die Mühe? Schreibt euch doch ein passendes Pamphlet und präsentiert es der Öffentlichkeit als den Klartext von Blatt I«, schlug Tim mit spöttischem Unterton vor.
»Daran wird bereits gearbeitet.«
»Oh. Ich hatte vergessen, dass ich es mit Lügnern und Betrügern zu tun habe.«
Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »So ein Täuschungsmanöver ist ziemlich schwierig. Man müsste ein Buch drucken, dessen Alter auch Experten auf nicht weniger als zweihundert Jahre schätzen würden und dessen Inhalt mit den Zahlenkolonnen des gefälschten Blattes I genau den gewünschten Klartext ergäbe. Computern fehlt für so eine Aufgabe die nötige Kreativität, und ein begabter Schriftsteller mit Kryptografiekenntnissen bräuchte Wochen, wenn nicht gar Monate, und falls an irgendeiner Stelle geschlampt würde, könnte jeder, der sich einigermaßen auf
Verschlüsselungsmethoden versteht, den Schwindel entlarven.
Würdest du uns jedoch helfen…«
»Vergiss es.«
Jamila nickte. »Das dachte ich mir. Leider stehen wir, um in der Sprache des Schachs zu bleiben, unter Zugzwang. Der Börsencrash von 1929 zeigt, wie die Weltwirtschaft innerhalb weniger Tage kollabieren kann. Der Gegner hat die Initiative ergriffen, und wie du mir erklärt hast, müssen wir sie zurückerobern.«
»Sofern ihr die Partie gewinnen möchtet«, brummte er. Ihre Argumente entbehrten nicht einer gewissen Logik. Trotzdem widerstrebte ihm seine Bauernrolle in dieser »Schachpartie«, je mehr er darüber erfuhr. Wie zur Bestätigung seiner ablehnenden Haltung, sagte Jamila jetzt auch noch etwas, das ihn völlig überraschte.
»Bitte, komm mit mir in die Staaten, Tim.«
»Was?«, wunderte er sich. »Davon war bisher nicht die Rede.
Ich denke gar nicht dran.«
»Hier können wir aber nicht für deine Sicherheit garantieren.«
Ihm fiel auf, wie oft sie das Wörtchen wir benutzte, ohne über den namenlosen Teil dieses Wir zu reden. Immer mehr kam er sich wie eine Schachfigur vor, die von den Leuten hinter der Agentin über ein großes Spielbrett geschoben wurde, während er stets nur ein paar benachbarte Felder überblickte.
Dementsprechend trotzig klang seine Antwort. »Dann findet gefälligst den Kerl, der deinen Bruder und seine Kumpane auf mich angesetzt hat.«
»Woher weißt du, dass es ein Kerl war?«
Er sah sie streng an. »Seit wann haben in islamistischen Gruppierungen Frauen das Sagen?«
»Jetzt sei doch bitte vernünftig, Tim. Unser Projekt ist nicht länger geheim. Du bist nicht länger geheim. Auf jedem Kanal kann man hören, dass du in Cambridge arbeitest. Meinst du, Azams Hintermänner schauen nicht fern? Owl möchte dich nach Washington holen, wo wir besser auf dich aufpassen können. Du würdest in der Kongressbibliothek arbeiten, die –
nur, falls du es nicht weißt – maßgeblich auf den Buchbestand von Thomas Jefferson zurückgeht. Du könntest nach Belieben in der Sammlung lesen. Nach allem, was du hier herausgefunden hast, erscheint mir das sogar aussichtsreicher, als hier weiterzumachen.«
»Owl?«, wunderte sich Tim.
»Das ist der Deckname meines Vorgesetzten.«
»Spionierst du auch unter einem Pseudonym?«
Sie zögerte, antwortet dann aber: »Morgiane.«
»Tausendundeine Nacht, wie hübsch!«
»Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen. Was soll ich meinem Chef nun sagen? Begleitest du mich in die Staaten?«
»Möchtest du das denn?«
Sie stöhnte. »Fängst du schon wieder damit an? Ja, ich will es. Bis dass der Tod uns scheidet.«
»Darüber kann jetzt ich nicht lachen. Sag deinem Boss, ich brauche einen Tag Bedenkzeit.«
»Ist das dein Ernst?«
»Absolut.«
Einige Sekunden lang lagen ihre Blicke miteinander im Clinch. Dann nickte Jamila. »Also schön. Ich rede mit Owl.«
Sie müsse mit ihrem Chef telefonieren und werde Tim später in der Bibliothek treffen, hatte Jamila gesagt und war ziemlich rasch gegangen. Danach hatte Tim noch zwei Stunden lang die Berichterstattung im Fernsehen verfolgt. Die Meldungen zur
»Beale-Krise« überschlugen sich. Man konnte zusehen, wie sich die Situation, vor allem an den Börsen, verschlechterte.
Die auf Sensationsmeldungen geeichten Nachrichtenjäger erbeuteten zunehmend auch Stimmen, die nicht unbedingt zur Beruhigung der Lage beitrugen.
Einige hochrangige Persönlichkeiten aus Downing Street, verkündete ein BBC-Sprecher, verträten laut inoffizieller Quelle die
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