Der Mann, der nichts vergessen konnte
Ansicht, man müsse mit den USA auf höchster Ebene Gespräche über die geänderte Lage führen. Aus dem Wirtschaftsministerium höre man die – ebenfalls unbestätigte – Forderung, der Dollar als internationale Leitwährung solle durch das Britische Pfund ersetzt werden, sofern die Andeutungen der Beale-Chiffre zutreffend seien. »Wie gut, dass wir Briten noch nicht den Euro haben!«, kommentierte die offiziöse Quelle.
Gegen Mittag war Tim davon überzeugt, dass entweder a) die Welt komplett durchdrehte oder b) Jamila mit ihrer Cyberwar-Theorie recht hatte. Weil ihm die Paranoiathese nicht behagte, neigte er eher dem zweiten Gedankenkonstrukt zu: Terroristen hatten die Situation von langer Hand vorbereitet und brachten jetzt durch Manipulationen im Internet einige börsennotierte Schlüsselunternehmen ins Trudeln, wodurch eine fatale Sogwirkung entstand, die am Ende die ganze Weltwirtschaft mit sich reißen konnte. Seltsamerweise fühlte sich Tim besser, nachdem er für die irrwitzigen Vorgänge um sich herum eine leidlich plausible Erklärung gefunden hatte.
Innerlich gefestigt begab er sich auf den Weg in die Universitätsbibliothek, um im Sturm neuen Wissens seinen Geist zu reinigen und so zu einer Entscheidung im Hinblick auf die USA-Reise zu gelangen. Er ging zu Fuß. Das Wetter erlaubte es. Der Himmel war weniger grau als in den letzten Tagen. Ab und zu schaute sogar die Sonne zwischen den Wolken hindurch.
Tim marschierte zwischen den Sport Grounds des Newnham sowie des Gonville & Cains College hindurch, lief an der Ridley Hall vorbei und erreichte so das Sidgwick-Areal.
Dieses durchquerte er in nördlicher Richtung, bis er über die West Road zur Bibliothek gelangte. In Gedanken war er schon bei den Büchern, die er am Nachmittag memorieren würde, als die Tür vom Haupteingang sich öffnete und Jamila erschien.
Sie winkte ihm zu, er winkte zurück und stellte sich vor, sie wären ein Paar, das derartige Übungen regelmäßig praktizierte.
Plötzlich – es war ziemlich genau an der Stelle, wo Azam Zardahs Blut auf den Stufen verblich – trat ihm ein grobschlächtiger Mann in den Weg. Er trug einen offenen grauen Regenmantel, war etwa eins achtzig groß und ähnelte verbluffend Jossif Stalin: Bürstenhaarschnitt, buschige Augenbrauen, dichter Schnurrbart und falsches Grinsen.
»Guten Tag, Dr. Labin. Gratuliere zu Ihrem pyromanischen Durchbruch.«
Und riesige Ohrläppchen hat er auch noch, registrierte Tim in Gedanken. Er fand die Situation irgendwie seltsam, blieb aber freundlich. »Sie meinen vermutlich kryptografisch. Trotzdem vielen Dank.«
»Keine Ursache, Sie Hurensohn. Durch Ihre Genieleistung bin ich mein Vermögen losgeworden, meine Frau hat mich verlassen, und demnächst wird meine Bank mir mein Haus wegnehmen. Ich wollte mich für diese Nettigkeit erkenntlich zeigen.«
Ehe Tim begriff, wie ihm geschah, hatte der Stalin-Doppelgänger ein großes Küchenmesser gezückt und holte damit aus, wohl in der Absicht, ihn zu filettieren.
Tim warf sich schreiend zur Seite, das Messer rauschte an seinem linken Ohr vorbei. Er landete unsanft auf dem Boden, genau auf dem Blutfleck von Zardah. Dies war indes seine geringste Sorge, denn der Amokläufer wurde jetzt erst richtig wütend. Er stieß ein animalisches Knurren aus und hob abermals die Waffe. Tim rollte sich die Stufen hinunter. Aus den Augenwinkeln nahm er andere Menschen wahr, die den Vorfall offenbar interessiert verfolgten – zu Hilfe kam ihm aus dem Publikum jedoch niemand. Der Messerschwinger verfolgte ihn derweil auf dem Weg nach unten und brüllte:
»Bleib endlich liegen, du Schwein, damit ich dich abstechen…«
Jäh verstummte er, weil endlich doch jemand die Zivilcourage besessen hatte und ihm das Schlachtfest verdarb.
Jamila kickte dem Wüterich mit einem gezielten Fußtritt das Messer aus der Hand, hieb ihm mit dem Handballen von unten gegen die Nase, dass es knackte, und beförderte ihn anschließend, Gesicht voran, auf den Boden. Im Nu hatte sie ihm ein Knie zwischen die Schulterblätter gedrückt und ihm gleichzeitig irgendwie den rechten Daumen samt Arm auf eine erkennbar schmerzhafte Weise in Richtung Rücken verdreht.
Während er vor Schmerzen stöhnte und mit wüsten Beschimpfungen protestierte, zog sie unter ihrem Mantel eine mattschwarze Pistole hervor, drückte sie ihm in den Nacken und zischte: »Halt die Klappe. Eine Bewegung, und es knallt.«
Der Stalin-Imitator wurde zahm wie Mahatma Gandhi.
»Kann mal
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