Der Mann, der nichts vergessen konnte

jemand die Polizei alarmieren?«, rief Jamila mürrisch ins Publikum.
    Bei den Bibliotheksbesuchern erwachte das soziale Gewissen. Etliche Handys wurden gezückt, viele Notrufe abgesetzt und manches Erinnerungsfoto geschossen.

    Jamilas grüne Augen fixierten Tim unbarmherzig. »Ich will dich wirklich nicht drängen, aber der Vorfall heute sollte dir zu denken geben.«
    Sie saßen im Esszimmer von Mrs Atkinson und hatten dampfende Teetassen vor sich stehen. Nach einer zweistündigen Befragung durch die Polizei waren beide durstig.
    Tims Stimmung tendierte gegen null. Mürrisch schob er das Geschirr über den Tisch, um es irgendwie zu ordnen, wurde dadurch aber nur noch frustrierter, weil die Untertassen rund waren und sich beim besten Willen keine parallelen Linien und rechten Winkel herstellen ließen. Außerdem gingen ihm allmählich die Gegenargumente aus. Jamilas Warnung war mehr als berechtigt. Er brauchte Schutz. Trotzdem fühlte er sich seines freien Willens beraubt. »Ich könnte nach Berlin zurückgehen«, brummte er.
    »Ha!«, lachte sie. Es klang, als breche ein trockener Ast.
    »Meinst du, in Deutschland bist du vor solchen Leuten sicher?
    Ich habe heute Vormittag mit meinem Chef telefoniert. Unter uns gesagt: Er meinte, die Angelegenheit könnte sich für die amerikanischen Geheimdienste zur größten Fehleinschätzung seit der Schweinebucht auswachsen. Die Beale-Krise gleicht einem Erdrutsch. Wenn du mir nicht glaubst, schalt den Fernseher ein: Die Börsen spielen verrückt. US-Staatsanleihen verzeichnen Riesenverluste. Offenbar glaubt alle Welt, dass Uncle Sam nicht mehr seinen Verpflichtungen nachkommen kann, wenn erst die Nachzahlung an Großbritannien fällig wird.«
    »Aber das ist doch Irrsinn. Bisher gibt es keine gesicherten Beweise, dass so etwas überhaupt passieren könnte.«
    »Du vergisst die ›Meister des Endspiels‹, die sich die Angst der Anleger vor Verlusten zunutze machen. Wenn die risikoscheuen Sparer dem Staat kein Geld mehr leihen, dann wirft er eben wieder die Druckmaschinen an, glauben viele.«
    »Nach Ausbruch des letzten Irak-Krieges war’s ja tatsächlich so.«
    »Das ist ja das Fatale. Die Ängste sind nicht völlig aus der Luft gegriffen. Aber würde man einen mehr als zweihundert Jahre alten Schuldenberg aus der Druckerpresse bezahlen, dann stiege die Inflation in astronomische Höhen. So irrational die Angst davor auch sein mag, sie treibt trotzdem die Flucht aus den Wertpapieren an. Selbst gesunde Unternehmen sind inzwischen von der Hysterie betroffen. Und der Wahnsinn gewinnt fast minütlich an Tempo, weil in den Computern der Broker Abertausende von Verkaufsaufträgen nur darauf warten, dass die Kurse unter die Stopp-Loss-Marken fallen.
    Genau das geschieht in diesen Stunden. Selbst wenn die Börsen den Handel aussetzen, könnten morgen schon Dutzende oder Hunderte von armen Hunden, die über Nacht ihr Vermögen verloren haben, an deine Tür klopfen, egal, ob du nun in Großbritannien oder Deutschland bist.«

    Tim sah Jamila fassungslos an. »Ist es tatsächlich so schlimm?«
    »Vermutlich schlimmer. In der Finanzwelt kenne ich mich zu wenig aus, um dir die Zusammenhänge genau aufzudröseln.
    Auf alle Fälle braut sich da ein schrecklicher Sturm zusammen, Tim. Komm mit mir in die Staaten, damit du unbehelligt deine Arbeit beenden und diesem Wahnsinn ein Ende machen kannst.«
    »Was ist, wenn ich das letzte Beale-Blatt entziffere, und alles trifft ein?«
    »Das Schlimmste sind im Augenblick die Gerüchte und Spekulationen – für jeden Anleger ist Unsicherheit Gift. Wenn wir in einem psychologisch klug ausgearbeiteten Kommunique die Wahrheit auf den Tisch legen, ist mit der Ungewissheit Schluss. Sollte die Unabhängigkeitserklärung tatsächlich gefälscht sein, wird sich die Regierung aufs Gewohnheitsrecht berufen, und die Lage beruhigt sich wieder.«
    Er spürte den Druck ihrer Argumente, hatte aber trotzdem Bedenken. Ausweichend sagte er: »Ich bräuchte noch eine Schonfrist.«
    »Wir können uns kein weiteres Zögern leisten, Tim.«
    »Werden wir denn drüben weiterhin Partner sein?«
    »Ich kann meinem Chef sagen, dass du darauf bestehst.« Tim nickte. »Also gut. Unter diesen Bedingungen komme ich mit.
    Ich sollte aber wenigstens unsere Liste mit dem Katalog in Washington abgleichen, um die dort fehlenden Titel noch hier in Cambridge zu memorieren.«
    »Okay, ich besorge dir alles, was du brauchst. Hoffentlich kommt uns die Verzögerung am Ende nicht teuer zu