Der Mann, der nichts vergessen konnte
stehen.«
Noch nie hatte Tim für ein Mädchen so empfunden wie für Jamila. Sie brachte ihn dazu, die unmöglichsten Dinge anzustellen. Welcher Frau wäre er je in einen Fahrstuhl gefolgt? Unter neunundvierzig nicht einer. Aber die fünfzigste war eben anders. Sicher, sie wirbelte sein Leben gehörig durcheinander. Einige Veränderungen waren durchaus positiv, andere hingegen konnten tödlich enden. Aus diesem Grund hatte Tim sich auch die Schonfrist ausbedungen.
Er wusste nicht, ob er Jamila vertrauen konnte.
Nachdem sein Umzug nach Washington erst einmal feststand, hatte er daher nicht ohne Hintergedanken zu ihr gesagt: »Die Bibliothek hat heute bis zehn geöffnet. Lass uns keine Zeit vertrödeln und wieder an die Arbeit gehen.«
Der Argwohn stand ihr ins Gesicht geschrieben, doch sie willigte ein. Aus Sicherheitsgründen, wie sie erklärte, rief sie ein Taxi.
Wenig später trafen sie vor dem Hauptportal der Bibliothek ein. Beiderseits des Eingangs standen bewaffnete Polizisten.
Durch den jüngsten Vorfall war die ehrwürdige Universitätseinrichtung endgültig zu einem potenziellen »weichen Ziel« für Terroristen und Amokläufer erklärt worden.
Im Foyer setzten sich die neuen Maßnahmen fort. Jeder, der das Gebäude betreten wollte, musste sich einem strengen Sicherheitscheck unterziehen. Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes blickten in jede Tasche. Außerdem spürten sie, streng nach Geschlecht getrennt, mit Handdetektoren nach Metall, und mit den Fingern tasteten sie nach Waffen. Jamila zeigte der Frau, die sich der weiblichen Besucher annahm, ihren Ausweis, dann den unter ihrem Mantel und einer schwarzen Lederjacke verborgenen Pistolenholster, worauf sie anstandslos passieren durfte. Tim hatte weniger Glück.
»Was soll das?«, fuhr er den Kontrolleur an, der ihm mit dem Ring des Metallspürgeräts auf die Pelle rücken wollte, und wich mehrere Schritte zurück. Der Securitymann war ein schwarzer Schwerathlet, so zumindest sah er aus. Spaß schien er keinen zu verstehen.
»Wenn Sie sich nicht überprüfen lassen, Sir, dann kommen Sie nicht rein«, knurrte er.
»Haben Sie keine Metalldetektoren zum Durchlaufen, so wie am Flughafen?«
»Nein. Die werden erst morgen installiert. Heute bin nur ich da.«
»Aber ich will nicht, dass Sie mich anfassen.«
»Keine Angst, ich stehe nicht auf Männer«, erwiderte der Wachmann mit versteinerter Miene.
Bevor die Missverständnisse dramatische Ausmaße annehmen konnten, schaltete sich Jamila ein. Sie klappte für den Sicherheitsmann erneut ihren Ausweis auf und raunte:
»Dr. Labin gehört zu mir. Bitte kommen Sie ihm nicht zu nahe.
Er leidet unter der Anthropophobie.«
»Popo… Was?«
»Eine Form der sozialen Phobie: Die Nähe anderer Menschen macht ihm Angst. Abgesehen davon, findet der ganze Zirkus hier wegen ihm statt – er ist das Opfer des Anschlags von heute Mittag. Sie können ihn getrost passieren lassen.«
»Aber ich habe meine Vorschriften, Ma’am, und sie besagen, dass ich niemanden unkontrolliert in das Gebäude lassen darf.«
Sie lüpfte ihren Mantel und die Jacke, wodurch der Uniformierte die Heckler & Koch USP Compact zu sehen bekam, deren Vorzüge sie gegenüber Tim nach der Messerattacke gelobt hatte. »Ich habe auch meine Vorschriften, und sie besagen, dass ich jeden erschießen muss, der Dr. Labin zu nahe kommt.«
Die Augen des Wachmannes quollen ihm schier aus dem Kopf. Ehe er jedoch noch etwas sagen konnte, meldete sich seine Kollegin von links.
»Hast wieder bei der Einsatzbesprechung geschlafen, was, George? Der Boss hat gesagt, die beiden sind für uns sakrosankt. Was immer das heißt – du lässt sie besser durch.«
Kurz darauf betraten Tim und Jamila den großen Lesesaal.
Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Kann ich dich für ein Stündchen alleine lassen? Ich muss aus Washington die Daten besorgen, die du zum Abgleich der Kataloge brauchst.«
Innerlich atmete er auf. »Sicher. Ich habe genug zu tun.«
Er wartete, bis sie den Saal verlassen hatte. Dann begab er sich schnell in den Leseraum für digitale Medien, in dem es mehrere Bildschirmarbeitsplätze mit Internetanschluss gab.
Hier, in der Universitätsbibliothek von Cambridge, konnte er ungehindert einige Recherchen anstellen, die in Washington, unter den wachsamen Augen der NSA, eventuell nicht mehr möglich sein würden. Schon allein deshalb brauchte er die
»Schonfrist«. Im Laufe der letzten Tage hatte sich am Gestade seiner Erinnerungen
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