Der Mann, der niemals lebte
musste. Diese Menschen hassen uns. Und sie haben auch allen Grund dafür – kapierst du das denn nicht?«
Sie hatte sich so in Rage geredet, dass ihre Wangen glühten. Ferris wusste, dass er ihr bessere Antworten schuldete, aber er war einfach nicht gut in politischen Diskussionen, das war eines seiner größten Probleme. Sie erinnerten ihn immer an den Teil der journalistischen Arbeit, den er am wenigsten gemocht hatte. Die Auseinandersetzung mit der Politik war etwas für Mitarbeiter des Außenministeriums, für Leitartikelschreiber oder für Menschen wie diese rätselhafte Alice, die in Flüchtlingslagern arbeitete und in einem leichten Sommerkleid zum
Abendessen erschien. Aber irgendetwas musste er sagen, sonst würde sie ihn als hoffnungslosen Fall abschreiben.
»Doch, Alice, ich habe begriffen. Ich begreife sogar mehr, als du denkst, denn ich stehe genau so in der Schusslinie. Das geht uns allen so. So sieht unser Leben heute einfach aus.«
Sie sah ihm in die Augen, schien darin nach etwas zu suchen. Ahnte sie, was er tatsächlich machte? Hatte sie es erraten? Der Gedanke war ihm unbehaglich. Er entschuldigte sich und ging zur Toilette. Auf dem Weg dorthin und zurück versuchte er, sein Humpeln zu verbergen, doch die abendliche Kälte tat seinem Bein nicht gut, und Alice merkte es.
»Was ist denn mit deinem Bein?«, fragte sie, als er sich wieder gesetzt hatte. »Hast du dich verletzt?«
»Die Verletzung ist schon alt. Jetzt geht es mir wieder gut.«
»Wie ist das denn passiert? Nur, wenn dir die Frage nicht unangenehm ist...«
Ferris dachte einen Augenblick nach. Die Frage war ihm tatsächlich unangenehm, aber wenn er mit Alice eine Zukunft haben wollte, musste er ihr ein bisschen mehr darüber erzählen, wer er war.
»Ich bin im Irak angeschossen worden. Da habe ich gearbeitet, bevor ich hierherkam. Ich war mit einem Auto unterwegs, das mit einer Granate beschossen wurde, und dabei habe ich eine Menge Splitter ins Bein bekommen. Die Ärzte haben das alles wieder sehr gut hinbekommen, ich humpele nur noch ab und zu ein bisschen. Aber seither bin ich viel besser im Bett.«
Sie lachte nicht über seinen Scherz, sondern sah ihn unverwandt an.
»Was hast du denn im Irak gemacht?«
»Ich war dort bei der Botschaft. Ursprünglich für ein Jahr, aber nachdem mir diese Sache passiert ist, haben sie mich erst nach Hause geholt und dann hierhergeschickt. Und da habe ich dich getroffen. Da siehst du, was ich für ein Glückspilz bin.«
»Aber du bist doch sicher nicht in der Botschaft verwundet worden.«
»Nein. Ich war außerhalb der Grünen Zone unterwegs. Auf einer Straße nördlich von Bagdad.«
Alice griff nach seiner Hand, hielt sie im Halbdunkel eine Weile fest und ließ sie dann wieder los. »Du arbeitest aber nicht etwa für die CIA, oder doch?«
»Natürlich nicht. Ich bitte dich. Bevor ich in den diplomatischen Dienst gegangen bin, habe ich beim Time Magazine gearbeitet. Das kannst du jederzeit auf Nexis nachlesen. Einen ehemaligen Journalisten würden die bei der CIA doch niemals nehmen.«
»Ein Glück«, sagte Alice. »Sonst hätten wir nämlich ein Problem.«
Ferris spürte, wie sich die kleinen Härchen an seinen Armen aufstellten. Normalerweise machte es ihm nichts aus, wegen seiner Arbeit beim Geheimdienst zu lügen, das gehörte nun mal zu diesem Job. Aber jetzt, bei Alice, war das etwas anderes.
»Ich finde es bewundernswert, dass du so tapfer bist, Roger. Ich würde mir nur wünschen, du würdest deine Tapferkeit für etwas anderes einsetzen. Dieser Krieg zerstört unser Land. Eigentlich sollten die Menschen Amerika mögen – aber dann sehen sie all die furchtbaren Dinge, die wir tun, und fragen sich, ob wir zu Ungeheuern geworden sind. Ich habe wirklich Angst davor, was noch alles passieren wird.«
»Das macht mir auch Sorgen.« Ferris stand vom Tisch auf und nahm sie bei der Hand. »Es sind schlimme Zeiten.« Er zog sie sanft an sich. Für einen endlosen Augenblick blieb sie in seinen Armen, dann machte sie sich wieder von ihm los.
Während Ferris die Prince-Mohammed-Straße entlang in das alte Viertel fuhr, wo Alice wohnte, schwieg sie und schaute aus dem Fenster. Ferris machte sich bereits Sorgen, dass sie vielleicht böse auf ihn war, aber dann sagte sie: »Bieg hier links ab. Ich möchte dir einen Ort zeigen, an dem du noch nie gewesen bist.« Mit rasch aufeinanderfolgenden Hinweisen lotste sie Ferris kreuz und quer durch die schmalen Straßen der Altstadt, und kurze
Weitere Kostenlose Bücher