Der Mann, der niemals lebte
dass er mich atmen hören konnte. Ich schwieg ziemlich lange, bestimmt eine Stunde lang, vielleicht sogar noch länger. Und dann fing er endlich an zu reden. Er wollte wissen, ob ich ihm denn keine Fragen stellen wolle. Da wusste ich, dass er jetzt reif zum Auspacken war. Er bettelte förmlich darum, verhört zu werden.«
»Und was haben Sie getan?«
»Nichts. Ich wollte immer noch nicht mit ihm reden und flüsterte ihm lediglich ins Ohr, dass er in bösen Schwierigkeiten stecke. Und dann zog ich ihm die Kapuze vom Kopf und zeigte ihm ein Foto.«
»Von seiner Mutter.«
»Selbstverständlich. ‹Sei vorsichtig), flüsterte ich ihm zu, bevor ich das Verhörzimmer verließ. Ich wollte ihm noch weitere vierundzwanzig Stunden der Leere geben, damit er auch wirklich den Drang zum Reden verspürt. Ich glaube, jetzt ist es so weit. Wollen wir hinuntergehen und nachsehen?«
»Ja«, sagte Ferris. Er wusste, dass ihm ohnehin nichts anderes übrig blieb. »Aber eine Bitte hätte ich noch.«
»Und die wäre?«
»Kann ich kurz in der Zentrale anrufen und sagen, dass Karami tot ist?«
»Nein.« Hanis Augen blickten so traurig wie die eines Hundes. »Ich furchte, das wäre jetzt nicht angebracht.«
»Warum nicht?«, fragte Ferris, und als Hani ihm keine Antwort gab, bekam er zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Jordanien Angst vor seinem Gastgeber. Im Grunde war er Hanis Gefangener, und auch wenn der Araber noch so freundliche Worte für ihn fand, würde er ihn doch ohne mit der Wimper zu zucken töten lassen, wenn er das für nötig befand. Davon war Ferris überzeugt.
Hani stand auf und ging zur Tür. Kaum hatte er sie geöffnet, standen die beiden Unteroffiziere stramm, aber Hani wedelte sie mit einer Handbewegung zur Seite. Der Wachsoldat am Ende des Korridors murmelte ehrfurchtsvoll: »Ya, sidi«, als sein Chef an ihm vorbeiging. Hani nickte ihm zu, tippte einen Code in einen Nummernblock und öffnete eine schwere Stahltür. Ferris folgte ihm in den Palast der Gespenster.
Direkt hinter der Tür war ein Aufzug ohne Knöpfe. Hani steckte einen Schlüssel in ein Schloss, und die Tür des Aufzugs öffnete sich. In der Kabine gab es nur zwei Tasten: Auf und Ab. Es war Hanis privater Aufzug hinab ins Gefängnis. Die Fahrt nach unten dauerte ziemlich lange, sodass Ferris sich fragte, ob der Aufzug so langsam war oder das Gefängnis tatsächlich so tief unter der Erde lag. Als sich nach einer knappen halben Minute die Tür wieder öffnete, erblickte er einen langen Gang mit Wänden aus feuchtem Beton.
In dem Gang stand eine Gruppe kräftig gebauter Araber, die aussahen, als könnten sie ohne viel Mühe einem Menschen das Genick brechen. Hani ging auf sie zu und flüsterte etwas, das Ferris nicht hören konnte. Er fröstelte. Es war eiskalt in diesem unterirdischen Verlies. Hani bedeutete Ferris, ihm den Gang entlang zu folgen. Alle zehn Meter befand sich eine Metalltür mit einem winzigen Guckloch.
»Sehen Sie ruhig hinein, wenn Sie wollen«, sagte Hani.
Ferris trat an eines der Löcher und sah einen ausgezehrten Mann in Unterhosen, der mit glasigem Blick ins Leere starrte. Er wirkte, als ob er nicht mehr lange zu leben hätte. Aus der Zelle drang ein strenger Geruch nach Fäkalien und Urin.
»Das ist ein harter Brocken«, bemerkte Hani. »Aber irgendwann wird auch er aussagen.«
Danach wollte Ferris in keine der Zellen mehr hineinschauen. Er war nicht übermäßig zartbesaitet und hatte schon oft gesehen, wozu Amerikas Freunde und Verbündete fähig waren, wenn sie jemanden unter Druck setzen wollten. Im Vergleich dazu war Hani noch harmlos. Trotzdem fühlte sich Ferris hier unten unwohl. Sie kamen zu einer Kreuzung, von der aus sich Korridore mit weiteren Zellen gut hundert Meter weit in jede Richtung erstreckten, und bald darauf zu einer weiteren, ähnlichen Kreuzung. Mein Gott, dachte Ferris, in diesem Gefängnis muss ja halb Jordanien einsitzen.
»So, da wären wir«, verkündete Hani, als sie an eine dritte Kreuzung kamen. Er bog nach links ab in einen Gang, von dem keine Zellen abgingen, sondern kleine Räume, die offenbar als Verhörzimmer dienten. Ferris hörte den Schrei eines Mannes. Er begann als plötzliches, schmerzhaftes Aufheulen, als würde jemandem ein Knochen gebrochen, und wurde dann immer lauter und intensiver. Ferris konnte nicht sagen, ob der Schrei echt oder gespielt war. Kurze Zeit herrschte Stille, dann erscholl ein weiteres entsetzliches Gebrüll, gefolgt von einem arabischen Wimmern um
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