Der Mann, der niemals lebte
am Telefon halten wollte. Er machte sich jedoch keine Sorgen deswegen: Seine Tarnung war schließlich absolut wasserdicht. Man hätte seine Stimme schon sehr gut kennen müssen, um eine Verbindung zu ihm herzustellen, und die Chancen dafür lagen praktisch bei null.
Ferris ließ Hoffman eine Nachricht über den erfolgreichen Ablauf zukommen und fragte ihn, ob er auf dem Weg in die Vereinigten Arabischen Emirate einen kurzen Zwischenstopp in Amman einlegen dürfe. Er wollte Alice sehen. Aber Hoffman sagte nein. Viel zu unsicher. Während er den Kontakt mit Omar Sadiki etablierte, müsse Ferris sich außerhalb von Jordanien aufhalten, damit Hani ihm nicht durch irgendeinen dummen Zufall auf die Schliche kam.
Ein paar Tage später schickte Hoffman Ferris eine verschlüsselte E-Mail. Sie hatten einen Toten. Harry Meeker lag in einem Kühlfach in Mincemeat Park auf Eis und wartete darauf, zu gegebener Zeit eingekleidet und frisiert zu werden und die Taschen mit all dem Kleinkram seines erfundenen Lebens gefüllt zu bekommen. Nun hatte die Giftpille also einen Körper und würde bald auch ihre ganz persönliche Biographie bekommen. Und Ferris hatte die Aufgabe, den Gegner dazu zu bringen, die Pille auch einzunehmen und sie unzerkaut hinunterzuschlucken.
Abu Dhabi
Ferris beobachtete, wie sich Omar Sadiki in der flimmernden Mittagshitze dem Restaurant in der Bainunastraße gleich beim Fischmarkt näherte. Er war ein großgewachsener, hagerer Mann mit schmalem Gesicht und sauber gestutztem Bart. Für das Geschäftsessen hatte er einen grauen Businessanzug angezogen, aber Ferris konnte ihn sich ohne Mühe auch in einem weißen Thoub und einer Kufija vorstellen.
Während der Oberkellner Sadiki an den Tisch führte, den Ferris für sich und den Jordanier reserviert hatte, blieb Ferris noch in seiner Nische auf der anderen Seite des Lokals, um sich zu vergewissern, dass Omar Sadiki auch niemand gefolgt war. Dabei musterte er Sadikis Gesicht eingehend: Der Mann machte einen gefassten, entschlossenen Eindruck, als wüsste er ganz genau, was er wollte. Einzig der dicke Deutsche mit dem teigigen Gesicht, der ein paar Tische entfernt ein Bier trank und den Stern las, schien den Jordanier ein wenig zu irritieren. Das wird wohl das Bier sein, dachte Ferris und fand diese Feststellung seltsam beruhigend.
Ferris verließ seine Nische, ging hinüber zu Sadiki und stellte sich ihm als Brad Scanion von der Unibank vor. Der falsche Name war nicht seine einzige Tarnung. Er hatte sein Erscheinungsbild für diesen Einsatz so stark verändert, dass nicht einmal mehr seine eigene Mutter ihn wiedererkannt hätte. Seine Haare und Augenbrauen waren jetzt blassblond, nicht mehr dunkelbraun. Außerdem trug er einen ebenfalls blonden, dünnen Schnurrbart und eine Brille mit schwarzem Rand, die seine Züge dominierte und das Funkeln in seinen Augen etwas dämpfte. Zusammen mit den Polstern an Bauch und Hüften, die ihn fünfzehn Kilo schwerer wirken ließen, sorgten all diese Dinge dafür, dass niemand, der Ferris aus Jordanien kannte, ihn hinter Brad Scanion vermutet hätte.
Der Händedruck des Jordaniers war schlaff, was im Nahen Osten ein Zeichen von guten Manieren war. Ferris entschuldigte sich dafür, dass er sich verspätet hatte, und Sadiki entschuldigte sich dafür, dass er zu früh dran war, während ein pakistanischer Ober mit Speisekarten in der Hand um sie herumscharwenzelte. Ferris betrachtete Sadikis Gesicht aus der Nähe und bemerkte, dass er mitten auf der Stirn einen roten Fleck hatte. Dieses Gebetsmal, das auf dem Foto nicht zu sehen gewesen war, zeugte davon, dass er beim täglichen, leidenschaftlichen Verneigen gen Mekka jedes Mal mit der Stirn den Boden berührte. Dass Sadiki seine Frömmigkeit so offen zur Schau stellte, war für Ferris ein weiteres gutes Zeichen.
»Verzeihen Sie bitte, ich wusste nicht, dass hier Alkohol ausgeschenkt wird«, sagte Ferris und deutete auf den Deutschen. »Wir können gerne in ein anderes Lokal wechseln, wenn Sie wollen.«
»Das ist kein Problem, Mr. Scanion. Der Mann ist kein Muslim und kann tun, was ihm gefällt«, erwiderte Sadiki und brachte mit Mühe ein säuerliches Lächeln zustande.
Nachdem der Ober ihre Bestellung entgegengenommen hatte, zog Ferris ein paar Dokumente aus seiner Aktentasche. Das erste war ein Luftbild von einem leeren Baugrundstück in Al Bateen, einem der besseren Viertel Abu Dhabis, das nahe der hübschen Innenstadt mit ihrem Blick auf die Küstenstraße
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