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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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brauchen.«
    Crittenden machte keine Anstalten, sich zu erheben und Tom so in den Mittelgang zu lassen. Er faltete die Hände und legte sie in den Schoß. »Das Hotel am Bahnhof war bereits ausgebucht, wie man mir sagte. Das anstehende Sommerfest scheint einige Gäste in Ihr Städtchen zu locken. Sie finden mich in der Pension einer gewissen Mrs Temple in der North Street.«
    Tom nickte. »Ja, Sir. Ich weiß, wo das ist. Dürfte ich bitte …?« Er deutete auf den Gang, aber noch immer erhob Crittenden sich nicht.
    »Ich habe noch eine Frage, bevor Sie gehen, Mr Sawyer.« Crittenden blickte mit seinen klaren blauen Schweinsäuglein zu Tom auf. Seine Wangen waren rosig. »Als John Wilkes Booth vor der Scheune in Bowling Green im Sterben lag und Sie bereits unterwegs nach Washington waren, hat er den Zeugenaussagen zufolge die Hände gehoben, auf seine Handflächen gestarrt und gemurmelt: ›Unnütz, unnütz‹, bevor er starb. Können Sie sich vorstellen, warum?«
    Tom blinzelte, dann zuckte er mit den Schultern. »Vielleicht, weil ihm in den letzten Minuten seines Lebens aufging, wie sinnlos der Mord war, den er begangen hatte; er konnte damit die Zeit nicht zurückdrehen. Für den Süden war der Krieg verloren. Vielleicht, weil ihm seine Flucht sinnlos erschien. Und wenn Sie recht haben, Major, dann vielleicht auch, weil ihm sein Bündnis mit Stanton nichts genützt hat. Ich weiß es nicht. Ich kann es Ihnen leider nicht sagen.«
    Crittenden nickte und schwieg. Schließlich stand er auf und machte Platz, damit Tom die Bankreihe verlassen konnte. Er streckte Tom die Hand hin, und Tom bemerkte dass der massige Major sehr schlanke Finger und eine fast damenhaft glatte Haut hatte.
    »Haben Sie vielen Dank, Mr Sawyer. Möge Gott Ihnen bei Ihrer Entscheidung helfen und Sie auf den rechten Pfad führen!«
    Tom ergriff die Hand des Majors, schüttelte sie und lächelte verbindlich. Er wollte zurück zum Anleger gehen und sehen, ob er den Mann mit dem Ruderboot noch irgendwo finden konnte, als er plötzlich innehielt und Crittenden entgeistert anstarrte. »Was haben Sie eben gesagt, Major?«
    Crittenden neigte den Kopf leicht zur Seite. »Wie meinen? Ich habe gesagt –«
    Tom schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn, und das klatschende Geräusch hallte im Dachgebälk nach wie ein Gewehrschuss. Dann rannte er ohne ein weiteres Wort aus der Kirche, als wäre der Teufel mit sieben Dämonen und einer Mistforke hinter ihm her, um ihn ins Fegefeuer zu ziehen.
    ~~~
    Der Stuhl knarrte und wackelte bedrohlich unter Toms Gewicht. Tom nahm das Bild von seinem Platz über der Tür ab.
    Wie hatte er nur so blind sein können? Es war die ganze Zeit direkt vor seinen Augen gewesen. Eine Tafel über der Tür.
    The Lord is my Shepherd,
    I shall not want;
    He makes me lie down in green pastures.
    He leads me beside still waters;
    He restores my soul.
    He leads me in paths of righteousness
    For His name’s sake.
    Psalm 23
    Der Herr ist mein Hirte … und Major Crittenden hatte ihn vor wenigen Minuten auf den rechten Pfad geführt.
    Hollis blickte besorgt zu ihm auf, schwänzelte um den Stuhl herum und bellte, als sein Herrchen wieder herunterstieg.
    Tom legte den gestickten Bibelvers in dem aus Zigarrenschachteln gebastelten Rahmen auf den Tisch in Pollys Wohnstube. Das Haus war verwaist, Sid war noch auf der Arbeit, obwohl es bereits Abend war und die Sonne nur noch die Giebel der Häuser in der Hooper Street streifte.
    Mit zitternden Fingern zog Tom aus seiner Jackentasche den vom Regen aufgeweichten und zerfledderten Zettel, den er aus der Seifenkiste hatte. Die Zahlen waren schon ziemlich verblasst.
    1865
    19 24 25 26 111 24 328 19 11 18 27 19,00
    34 46 65 23 56 32 33 115 63 42 25,00
    324 78 515 25 211 31 15 512 27 13 67 22,00
    22 111 410 21 43 15 14 25 52 316 28 73 71 71 25,00
    Er strich das Papier glatt, kramte aus einer von Pollys Schubladen eine Schreibfeder und ein Tintenfass hervor, riss aus einer Gesundheitszeitschrift eine Seite heraus und machte sich an die Entschlüsselung des Textes.
    Sorgfältig tauchte er die Feder in das Fass und malte Zahlen direkt auf den Stoff neben die Buchstaben des Psalms. Er nummerierte sie durch, wobei jeder Buchstabe zwei Zahlen bekam, einen für die Zeile, in der er stand, einen zweiten für die Position innerhalb der Zeile. Dann ersetzte er die Zahlen auf dem Zettel durch die jeweiligen Buchstaben, für die sie standen, so wie er es vor ein paar Tagen Becky gezeigt hatte.
    Die Feder

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