Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
wollte ihn herausziehen. Aber er schaffte es nicht.
Der Messingknopf steckte zwischen zwei Dielenbrettern fest. Tom nahm an, dass Becky oder Dobbins daraufgetreten waren, als sie miteinander rangen, und dass sie den Anhänger so zwischen die Dielenbretter geschoben hatten. Von der Kette war nichts zu sehen. Ein Bild tauchte plötzlich vor seinem inneren Auge auf: Dobbins, wie er Kaffee für ihn und Joe Harper kochte und wie das verschüttete Pulver zwischen die Ritzen der Dielen rieselte.
Er presste die Wange an den Boden und spähte in die schmale Ritze zwischen den Brettern. Da war ein schwaches silbernes Schimmern in einem schmalen Lichtschein, der durch die Ritzen der Dielen drang.
Das musste die Kette sein.
Sie lag fast zehn Fuß unter ihm in einem Raum unter der Küche.
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Tom versuchte mit den Fingernägeln in die Ritze zu kommen und die Diele anzuheben. Doch es gelang ihm nicht. Instinktiv griff Tom in seine Hosentasche, doch dann fiel ihm ein, dass Pepinawah sein Atkinson-Messer hatte. Fluchend stürzte er zum Schrank neben dem Herd und riss die Schubladen auf. Er fand ein schartiges Küchenmesser. Er kniete sich wieder hin, stieß das Messer in die Ritze und hebelte die beinahe zehn Fuß lange Diele aus dem Boden. Er hob sie heraus und warf sie zur Seite.
Unter ihm war ein Raum, ein gemauerter Keller, beinah so groß wie die Stube, soweit er erkennen konnte. Eine Leiter führte nach unten. Er schwenkte seinen Colt in die dunklen Ecken unter sich, doch es rührte sich nichts.
Oder sah er nur nichts?
Tom riss eine weitere Diele heraus, und noch eine, dann war der Spalt groß genug, dass er hindurchschlüpfen konnte.
Er nahm eine Kerze von der Fensterbank und zündete sie am Herd an. Die Kerze in der einen, den Colt in der anderen Hand, stieg er mit dem Rücken zu den Sprossen die steile Leiter hinab. Hollis blickte ihm aufgeregt schnuppernd vom Rand der Öffnung nach. Ein strenger Geruch schlug Tom entgegen, ein Geruch, der ihn an etwas Furchtbares erinnerte. Die Kerze flackerte, als er unten an der Leiter angelangt war. Der Boden des Raumes war aus gestampftem Lehm. Tom leuchtete mit der Kerze in die dunklen Ecken. Und sah ihn.
Dobbins.
Tom drückte ab, der Knall war ohrenbetäubend, doch der Mann rührte sich nicht, er blieb einfach stehen.
Kein Schrei, kein Stöhnen.
Keine Bewegung.
Und es war nicht Dobbins. Es war seine Perücke. Eine Perücke mit kurzen dunklen Haaren, die an einem Haken an der Wand über einem zerschlissenen hellgrauen Mantel hing, auf dessen Schultern sich Kletten und Dreck verfangen hatten. Tom hatte auf einen Mantel geschossen, doch seine Beine zitterten immer noch vor Schreck.
Die Kerze beleuchtete nur einen Umkreis von einer Armlänge um Tom, aber das genügte, um zu sehen, dass außer ihm niemand in diesem Keller war.
Kein Dobbins. Keine Becky.
Noch eine Sackgasse.
Als der Pulverdampf und der Staub sich gelegt hatten, hob er Beckys Kette auf und betrachtete die Perücke. Dobbins hatte sie hiergelassen. Und eine andere Perücke aufgesetzt? Eine mit langen blonden Haaren wie bei Debbie Chisholms Bastpüppchen und wie Tom sie auf Joe Harpers Handschuhen gefunden hatte? Die Perücke mit den kurzen dunklen Haaren, die er normalerweise trug, gegen eine andere zu tauschen wäre ein einfaches Mittel, um sein Erscheinungsbild schnell zu verändern. Tom hatte genau das Gleiche mit der Schafwolle auf seinem Kopf getan.
Er hielt die Kerze höher, blickte sich um und hielt den Atem an. Was er sah, jagte ihm eine Gänsehaut über den Nacken. Es gab einen groben Tisch, eher eine Werkbank mit einer rissigen Platte, die mit dunklen Flecken übersät war. Auf dem Tisch lagen Phiolen und ein dickes Buch. Davor stand ein Stuhl. Schlaufen an den Armlehnen ließen erahnen, dass hier jemand gefesselt worden war. Hattie? War sie in diesem Raum gewesen, als Tom und Joe nur ein paar Fuß über ihr mit Dobbins gesprochen hatten?
War das hier Dobbins Versteck, in dem er die Frauen über Wochen und Monate gefangen hielt? Aber wie war das möglich, wenn Hattie zu der Zeit ständig im Haus gewesen war? Sie hätte es bemerken müssen. Und wo war dann Becky?
Er leuchtete mit der Kerze über die Wände, drehte sich einmal im Kreis und zuckte zurück. Dutzende tote Augen starrten ihn an.
In einem Regal an der Wand standen lauter Einmachgläser und große bauchige Glasgefäße. Unzählige präparierte Tiere schwammen in einer trüben, öligen Flüssigkeit. Ein ganzer Hund. Ein Katzenkopf.
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