Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Frösche. Fische. Ein Marder, dem das Fell abgezogen worden war. Fledermäuse. Manchmal auch nur ihre Eingeweide. Säuberlich mit dünnen, eng gedrängten Buchstaben beschriftete Aufkleber aus verblichenem Papier prangten auf den Gläsern. Als er ein merkwürdiges blasenartiges, fleischiges Gebilde in einem Einmachglas sah, konnte er sich keinen Reim darauf machen.
Er las den Aufkleber, und der Magen drehte sich ihm um.
Menschlicher Uterus. Zehnte Schwangerschaftswoche.
Tom würgte etwas Galle herauf und spuckte sie auf den Boden. Er hielt sich an der Leiter fest, rieb sich mit dem Handballen die Stirn. Wenn er hier zusammenklappen würde, wäre alles aus, und es wäre um Becky geschehen.
Wo war sie? Wo hatte dieser Bastard sie hingebracht?
Würde dieser Keller es ihm sagen?
Tom leuchtete mit der Kerze über die drei anderen Wände. Diese waren beklebt mit Bildern, Fotografien, Zeichnungen, Tabellen – wie ein einziges, wahnwitziges großes Gemälde. Ein Triptychon des Irrsinns auf drei Wänden.
Anatomische Tafeln aus medizinischen Lehrbüchern, Zeichnungen von Menschen, die aussahen, als hätte jemand ihnen die Haut abgezogen, die Bauchhöhle geöffnet und die Eingeweide offengelegt. Nadeln waren auf die einzelnen Organe gepinnt und mit Fäden verbunden, die zu anderen Nadeln führten, die in Fotografien, Zeichnungen und Tabellen steckten. Ein Netz aus miteinander verknüpften Erkenntnissen; Ergebnisse aus irgendwelchen fragwürdigen Forschungen, die Dobbins zu betreiben schien.
Fellstücke waren an die Wand genagelt, weißes Fell, braunes Fell, geschecktes Fell. Hundefell? Da hingen Fotografien; verschwommen und unscharf zeigten sie eine junge schwarze Frau. Das war nicht Hattie. Aber vielleicht Fanny George, die bei Ezra Sparks, dem Stellmacher, gearbeitet hatte und die ebenfalls verschwunden war? Daneben das Bild eines Mulattenmädchens und das eines weißen Jungen. Nadeln steckten in den Augen und im Körper, daneben hingen Tabellen mit unzähligen Einträgen in einer kleinen, krakeligen, fast unleserlichen Schrift. Gepresste Pflanzen hingen an den Wänden und waren mit kleinen Zetteln versehen. Yamswurzel, Lithospermum ruderale, Apocynum cannabinum, Anemone multifia, Cirisium ochrocentrum, Vitex agnus-castus. Tom sagten die Namen nichts, aber er wusste, dass Dobbins einige davon in einem Gespräch erwähnt hatte. Hucks Stimme drang an sein Ohr.
So Blumen, die ganz selten sind, aber ich weiß, wo sie wachsen, und Dobbins hat mir Geld dafür gegeben.
Auch die Pflanzen waren mit Nadeln gespickt.
Ein Faden führte von der Yamswurzel zu der Fotografie der jungen Schwarzen, die vielleicht Fanny George war. Ein Faden verlief von der Anemone multifia zu einem anderen Foto. Unscharf, verschwommen, das Gesicht ausgemergelt und verzerrt vor Entsetzen. Dennoch erkannte Tom die Frau, die darauf abgebildet war.
Debbie Chisholm.
Was hatte Dobbins ihnen verabreicht?
Ich muss viel trinken. Das hat er gesagt. Trink viel.
Tom folgte dem Faden von einer weiteren Pflanze mit fünf fingerartigen Blättern, ähnlich dem Hanf. Vitex agnus-castus . Der Faden führte zu einem Zeitungsausschnitt. Tom erschauerte. Es war eine Fotografie von ihm. Mit Lincoln und Pinkerton auf dem Schlachtfeld von Antietam. Verwirrt schüttelte Tom den Kopf. Was hatte Dobbins mit ihm gemacht? Und wann hatte er etwas mit ihm gemacht?
Ich muss viel trinken. Das hat er gesagt. Trink viel.
Der Tee. Dobbins hatte ihm einen Tee gemacht. Zweimal. Aber was war passiert? Es war doch nichts passiert? Der Tee hatte doch nicht gewirkt, was auch immer seine Wirkung hätte sein sollen. Tom betrachtete den kleinen Zettel, der an der Pflanze hing.
Anaphrodisiakum.
Anaphrodisiakum. Was bedeutete das? Toms Gedanken wirbelten durcheinander. Das Wort hatte er schon einmal gehört. Oder so ähnlich. Aphrodisiakum . Das regte den Geschlechtstrieb an.
Dann war ein An-Aphrodisiakum …? Ein Raum kam ihm in Erinnerung. Ein Mädchen in einem Seidenkleid. Eine Chinesin, Lickin’ Lucy, über ihn gebeugt, wie sie verzweifelt versuchte, seiner halbgaren Erektion auf die Sprünge zu helfen. Er hatte einen Durchhänger gehabt und es auf den Whiskey, auf die Müdigkeit und auf die Gedanken an Becky geschoben.
Anaphrodisiakum.
Dobbins machte Experimente mit der Geschlechtlichkeit! Die entführten Frauen. Die Pflanzen. Die verschwundenen Hunde, angelockt mit dem Urin einer trächtigen Hündin. Die Felle. Und an den Wänden Tafeln, Stammbäume,
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