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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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gehe jetzt einfach wieder auf die Terrasse und …«
    Sie wollte sich zurückziehen, da packte Tom sie am Handgelenk.
    Mrs Temple riss die Augen auf, nackte Angst im Blick. »Tun Sie mir nichts! Bitte, ich …«
    »Seien Sie ruhig, und beantworten Sie meine Frage, Miss! Wem haben Sie vor fünf Tagen Ihren Wagen geliehen? Es hat geregnet in der Nacht, erinnern Sie sich?«
    Mrs Temple schüttelte den Kopf, ihre Unterlippe zitterte, als würde sie gleich weinen. »Meinen Wagen? Ich verstehe nicht … ich … ich weiß nicht!«
    Tom packte sie noch fester. »Wem? Denken Sie nach!«
    Bestürzt blickte sie zu Boden. »A-aber ich … Dem Sheriff? Joe Harper leiht sich das Ding ständig aus … aber …«
    Tom seufzte verzweifelt, doch da hellte sich Mrs Temples Miene plötzlich auf.
    »Es hat geregnet, sagen Sie? Jetzt weiß ich es wieder. Es war nicht der Sheriff. Ich war nicht sehr erfreut, weil ich Gäste hatte, die ich mit dem Wagen am Anleger abholen wollte, und als er den Wagen endlich zurückbrachte, war die ganze Ladefläche nass, als wäre sie gerade geschrubbt worden.«
    Toms Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern.
    »Wer war es?«
    ~~~
    Er hatte gelogen.
    Natürlich hatte er gelogen. Kein Mensch hat ein so gutes Gedächtnis, dass er ständig lügen könnte, ohne dass jemand es merken würde, hatte Lincoln einmal gesagt, und er hatte verdammt noch mal recht gehabt. Toms Herz schlug wie ein Schmiedehammer gegen seine Brust, als er die leichte Steigung zum Schulhaus hinaufrannte. Niemand hielt ihn auf, niemand beachtete den alten Indianer. Der Mob war mit anderen Dingen beschäftigt.
    Dobbins hatte gelogen. Mrs Temple war zwar wegen ihrer kanadischen Erbschaftsangelegenheiten bei Dobbins gewesen, wie er es gesagt hatte, als Tom ihn vor Tagen gemeinsam mit Joe Harper wegen Hatties Verschwinden befragte. Aber nicht am Sonntag, an dem sie Hattie angeblich noch gesehen hatte, sondern zwei Tage zuvor. Und Dobbins war es auch, der sich vor fünf Tagen Mrs Temples Wagen geliehen hatte, mit dem Tom zum Bahndamm und Jebs Leiche zu den Schweinen gebracht worden war.
    Dobbins.
    Der Wolf.
    Der Dämon.
    Nicht Sid und auch nicht Joe hatten Polly umgebracht. Es war Dobbins. Dobbins, zu dem er Becky geschickt hatte.
    Beeil dich, verdammt!
    Tom war nassgeschwitzt, als er die letzten Schritte zum Schulhaus rannte. Die Tür zur Schule stand weit offen, die Schüler waren heimgegangen. Tom wandte sich zu dem kleinen Haus des Lehrers, und Hollis rannte fröhlich neben ihm her.
    Bitte, mach, dass sie da ist, bitte!
    Als er aus Mrs Temples Haus gestürmt war, hatte Tom Pepinawah losgeschickt, damit der Cooper suchen sollte, und Shipshewano hatte er zurück zu Joe Harper in das Spukhaus geschickt, falls Dobbins tatsächlich mit Becky dorthin gegangen war. Er hatte dem Häuptling aufgetragen, Becky zu beschützen, falls er sie lebend vorfand. Und Dobbins zu erschießen, falls es nötig sein würde. Würde es nötig sein? Nicht auszudenken, was dieser kranke Bastard mit Becky anstellen könnte. Und Dobbins würde Joe Harper sicher nicht helfen.
    Er würde es zu Ende bringen und Joe töten.
    Tom verfluchte sich. Wie hatte er nur so blind sein können? Wenn er Adah Temple früher befragt hätte, wäre er schneller hinter Dobbins’ Lüge gekommen. Wenn er intensiver nach dem Wagen mit den halbmondförmigen Rissen in den Reifenbeschlägen gesucht hätte, wäre er schneller auf Joe und Dobbins als Verdächtige gestoßen.
    Wenn. Hätte. Wäre.
    Alles sinnlose Überlegungen.
    Schreie aus der Ferne rissen ihn aus seinen Gedanken. Er blickte über die Schulter. Drei Männer in Uniform preschten auf Pferden zum Friedhof. Sie schossen in die Luft. Das Geschrei der Menge drang bis hierher. Hatten sie Huck schon aufgeknüpft? Dann hätte er vermutlich einen Strick von einer der großen Platanen hängen sehen. Und seinen Freund Huck an diesem Strick.
    Doch Tom sah nichts dergleichen.
    Bitte, mach, dass Crittenden noch rechtzeitig kommt, bitte!
    Tom stieß die kleine Gartenpforte auf und war mit zwei Schritten bei der Eingangstür. Er zog den Colt und lauschte einen Augenblick lang, bevor er eintrat. Wäsche flatterte auf einer Leine im Garten, und der Wind spielte mit einem quietschenden Fenster. Sonst war nichts zu hören. Hollis zerrte an Toms Hose, und Tom schob ihn sanft mit der Stiefelspitze weg. »Lass das!«, flüsterte er. »Aus, Hollis!«
    Doch Hollis ließ nicht von ihm ab, er wollte spielen. Tom hörte keine Geräusche von drinnen

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