Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Augen füllten sich mit Tränen. »Scheiße, Tom!«, stieß er hervor und trat wieder einen Schritt auf Tom zu. »Das ganze Blut! Ich hab sie geschüttelt, und sie hat nich’ mehr geantwortet, verstehst du? Sie war tot! Tot!«
Er schrie so laut, dass es nicht lange dauern konnte, bis Joe Harper mit seinen Leuten im Schlachthaus stehen würde. Tom glaubte schon ihre Schritte vor der Halle zu hören. »Du musst mir jetzt die Wahrheit sagen, Huck. Hast du sie umgebracht?«
Huck blieb stehen wie vom Donner gerührt und blickte auf seine Füße. Er kaute auf der Unterlippe. Die Hand mit dem Messer hing schlaff an ihm herunter. »Die Wahrheit?« Traurig schüttelte er den Kopf und schwieg, immer noch in den Anblick seiner Stiefel vertieft.
»Ja, die Wahrheit. Hast du es mit dem Sack hier gemacht? War ein Stein darin? Hast du ihn ihr auf den Kopf gehauen?«
»Mit dem Sack?« Hucks trübe Augen glitten zu dem Sack mit den Blutflecken auf dem Boden. Er nickte versonnen. »Der Sack. Ja. Der Sack.« Huck schien völlig erstarrt, als wäre er in einen dichten Nebel gehüllt und nähme nichts mehr wahr um sich herum.
Tom bückte sich langsam, ohne Huck aus den Augen zu lassen. Er griff nach dem Le Mat, der auf dem Boden lag. »Ich werde dich jetzt hier rausbringen, Huck. Und du wirst nichts dagegen tun. Du wirst die Hände hochnehmen, und ich verspreche dir, dass Joe und Jim Hollis dich nicht anrühren werden, hörst du? Huck, hörst du mich? Hast du verstanden?«
Huck blickte abwesend zu Tom und dann auf den Revolver in dessen Hand.
»Lass das Messer fallen, Huck. Dreh dich um, und nimm die Hände hoch!«
Huck nickte wie in Trance. Er ließ das Messer fallen, und mit einem lauten Scheppern schlug es auf dem Boden auf. Im selben Augenblick hörte Tom die Schritte von Joe Harpers Männern in der Halle.
»Tom? Wo bist du? Hast du ihn?« Die Stimme des Sheriffs brach sich an den morschen Dachbalken. Draußen schlugen die Bluthunde an.
Tom machte einen Schritt auf Huck zu. »Gut. Jetzt dreh dich um, Huck, und nimm die Hände hoch.«
Huck gehorchte.
Joe Harper und seine Leute kamen um die Ecke. Sie verteilten sich in einem Halbkreis und legten auf Huck an. Joe Harper nickte Tom zu. »Gute Arbeit, Tom.«
Jeb spuckte verächtlich aus.
Tom trat direkt hinter Huck und stieß ihm den Lauf des Revolvers in den Rücken. Er beugte sich zum Ohr seines alten Freundes hin und raunte ihm zu: »Und jetzt sag mir, ob du sie umgebracht hast, Huck Finn. Hast du Polly ermordet? Sag mir die Wahrheit.«
»Die Wahrheit?« Huck flüsterte über die Schulter zu Tom und grinste dabei den Sheriff an.
Joe Harper zog Handschellen aus seiner Westentasche und warf sie vor Huck auf den Boden. Jim Hollis spannte den Hahn seiner Flinte und richtete sie auf Hucks Kopf. »Los!«, rief er grinsend. »Hast ein hübsches Kettchen bekommen, Bastard! Probier doch mal, ob’s passt!«
Tom drückte den Le Mat fester gegen Hucks Rücken. »Ja, Huck. Die Wahrheit.«
Huck schien den Druck überhaupt nicht wahrzunehmen. Er bückte sich ganz langsam, zeigte den Männern des Sheriffs seine leeren Handflächen, ließ die Hände dann sinken und griff nach den Handschellen. Er legte sie sich um und ließ sie einrasten.
Jim Hollis grinste, und Tom hörte, wie Joe Harper geräuschvoll ausatmete. Die Läufe der Waffen sanken etwas tiefer. Huck richtete sich wieder auf und drehte sich langsam um. Toms Le Mat zielte direkt auf seinen Bauch. Hucks Augen wurden kalt, der trübe Ausdruck war verschwunden. Er lächelte matt. »Die Wahrheit verträgst du nicht, Tom Sawyer.«
Blitzschnell griff Huck mit beiden Händen nach Toms Waffe. Tom zuckte zurück, Jim Hollis hob die Flinte, doch Huck war schneller. Er umklammerte Toms Waffe mit eisernem Griff und drückte Toms Zeigefinger auf den Abzug. »Tut mir leid, Tom.«
»Huck, nein! Was tust du da?«
Huck drückte stärker gegen Toms Zeigefinger. Ein Schuss löste sich. Tom riss die Augen auf. Huck erstarrte für einen Moment, dann kippte er vornüber und schlug auf dem Boden auf.
Im Schlachthaus war es totenstill. Unter Hucks leblosem Körper bildete sich eine Blutlache.
Dann war ein Kichern zu hören. »Nein, Sheriff, das nenn ich gute Arbeit!« Jim Hollis’ meckerndes Lachen dröhnte in Toms Ohren, als wären plötzlich alle Fenster geborsten und ein Schwarm kreischender Krähen wäre in das Schlachthaus geflogen.
Lovers’ Leap,
am Morgen des 11. Juli 1865
Er konnte die Augen nicht abwenden von der Glut.
Tom
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