Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
starrte auf die gelb und rot flackernden Holzstücke mit den tiefschwarzen Rissen, aus denen kleine Flämmchen züngelten, und zog die Decke enger um die Schultern. Ihm war kalt. Ein Windhauch strich über den Lovers’ Leap, einen Felsvorsprung auf einem Hügel im Süden der Stadt, und sorgte dafür, dass das kleine Feuer weiterglomm. Toms Lider waren schwer, bleischwer, aber doch nicht schwer genug. Er fühlte sich steif und zerschlagen und verquollen von Schlaflosigkeit. Der streunende Hund, der ihm aus der Stadt bis hier oben nachgelaufen war, winselte leise.
»Na, Kleiner? Auch müde?« Tom kraulte ihn hinter den Ohren. Der Rüde mit dem struppigen weiß-braun gescheckten Fell reichte Tom kaum bis zu den Knien. Kein Rassehund, eher eine Promenadenmischung. Das Tier legte den Kopf auf den Vorderläufen ab und schloss die Augen. Tom beneidete ihn. Wie schön es wäre, endlich einmal wieder zu schlafen.
Östlich vom Mississippi, hinter den Wäldern am Illinois-Ufer, erschien ein schmaler roter Streifen. Bald würde die Sonne über die Wipfel kriechen und den Dächern von St. Petersburg einen goldenen Schimmer verleihen. Bald. Noch lag die Stadt in tiefem Schlaf. Alle schliefen. Nur Tom nicht.
Die blaue Emailkanne, in der die welken Blätter schwammen, die Mr Dobbins ihm mitgegeben hatte, lag umgekippt neben der Feuerstelle. Tom war schon dreimal in den Büschen gewesen, weil ihn die Blase drückte. Aber müde war er nicht. Auch die Flasche Whiskey hatte nicht geholfen.
Als er volltrunken in den ersten Stock von »Harold’s Happy Tavern« gewankt war und sich auf die Maisstrohmatratze hatte fallen lassen, hatte er für ein paar Minuten das Gefühl gehabt, er würde schlafen. Aber das war nur ein Gefühl, und es verging wieder. Er drehte sich hin und her, schließlich stand er wieder auf, holte sich eine Kaffeekanne aus Timothys verwaister Küche und stieg den gewundenen Pfad zum Lovers’ Leap hinauf. Seit der Ecke Third und Church Street lief ihm der Hund hinterher. Warum er das tat, wusste Tom nicht. Er hatte ihn jedenfalls nicht dazu ermutigt. Im Gegenteil. Tom hatte versucht, ihn zu verscheuchen, aber der Rüde hatte sich nicht vertreiben lassen. Tom hatte die Kanne mit Wasser aus einer Quelle gefüllt, auf dem Felsplateau mit trockenen Pavienzweigen ein Feuer entfacht, und als das Wasser kochte, Dobbins’ Blätter hineingeworfen. Während der Tee zog, war er an die Felskante über dem Mississippi getreten. Angeblich hatte sich hier vor Jahrzehnten ein indianisches Liebespaar entschieden, gemeinsam in den Tod zu springen, weil ihre verfeindeten Familien nicht zuließen, dass sie zusammenlebten. Ein Sprung nur, und er würde für immer schlafen. Ein kleiner Schritt in die ewige Ruhe.
Der Gedanke war für einen Augenblick tröstlich in seinem benebelten Hirn aufgeblitzt, doch dann hatte der Hund aufgejault, und der Tee war fertig, und Tom hatte sich neben das Feuer sinken lassen und die Kanne in einem Zug leer getrunken. Seitdem starrte er in die Flammen.
Es war wieder passiert.
Verdammt noch mal, warum passierte das immer ihm?
Es war genau wie am 26 . April in der Scheune bei Bowling Green, als er versucht hatte, Booth herauszuholen. Er hatte im Schlachthof diese Last auf den Schultern gespürt. Die Last, wenn draußen alle warteten und einer allein hineinging. Wenn er hineinging.
Colonel Everton Conger hatte auf seine goldene Taschenuhr geblickt und ihm genau vier Minuten gegeben. Dann würde er auf das Gebäude schießen lassen. Bevor der Colonel wieder aufsah, war Tom bereits in der Scheune. Die Wände standen in Flammen, Tabakblätter schwebten als glühende Gerippe durch den Raum. Die Hitze war unerträglich, die Deckenbalken waren vor lauter Rauch kaum zu sehen. Booth lag am Boden auf nassem Stroh, schwitzend und zu schwach, den Revolver richtig zu halten. Das Bein, das er sich beim Sprung auf die Bühne des Ford’s Theatre gebrochen hatte, war fachmännisch geschient worden, doch es stand in einem merkwürdigen Winkel ab. Unter seinen sprühenden Augen lagen tiefe Schatten, das schwarze Haar klebte ihm an der Stirn. Der einstmals so anziehende Schauspieler sah ausgezehrt und blass aus, trotz der unnatürlichen Röte in seinem Gesicht. Er blickte auf und damit in den Lauf von Toms Colt.
»Waffe weg, Booth!«
Kraftlos ließ Booth den Revolver fallen; ein Karabiner lag neben ihm im Stroh. Er schob sich in eine sitzende Haltung. »Haben sie dich geschickt, damit du mich holst, Billy
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