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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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Yank?«
    »Ich hab’s mir selber ausgesucht, Booth. Aber wir müssen uns beeilen. In drei Minuten schießen sie.«
    Booth nickte schwach. »Gut. Ein Prozess also. Sehr gut. Ich habe einiges zu erzählen. Ich bin gut auf der Bühne, musst du wissen, Billy Yank! Oh ja! Und alle werden zuhören. Lafayette Baker, Minister Stanton, Präsident Johnson – sie alle werden mir zuhören, und sie werden rote Ohren bekommen, wenn ich ihnen das hier vortrage!«
    Die Hände in cremefarbenen Wildlederhandschuhen, zog er zitternd ein rot eingeschlagenes Buch halb aus der Innentasche seines Gehrocks, schob es wieder zurück und klopfte dann darauf. Booth hatte Fieber. Tom zog Handschellen aus der Tasche. »Halten Sie die Klappe, Booth. Und legen Sie sich die hier an.«
    Er warf ihm die Handschellen hin, und Booth griff danach.
    »Handschuhe aus!«
    Booth blickte erstaunt hoch, aber Tom hatte zu oft erlebt, dass Männer, die er verhaftet hatte, in den weiten Aufschlägen der Handschuhe ein kleines Messer verbargen, um damit anzugreifen, oder Nadeln und Draht, um sich aus den Handschellen zu befreien. Booth wollte protestieren, aber Tom unterbrach ihn. »Zwei Minuten noch, bis sie schießen.«
    Booth stöhnte. Er zog sich die Handschuhe aus, knüllte sie zusammen und warf sie Tom vor die Füße. »Bewahr sie gut auf, Billy Yank. Jeder wird sie haben wollen. Eines Tages sind sie ein Vermögen wert.« Booth lachte schrill.
    »Ich heiße Tom Sawyer. Und jetzt die Handschellen.«
    Während Booth sich gehorsam die Handschellen überstreifte, bückte sich Tom nach den Handschuhen. Auf dem Leder waren Blutspritzer. Vielleicht war es Lincolns Blut. Es sollte nicht in einer Scheune in Virginia verbrannt werden.
    Als er sich aufrichtete und die Handschuhe einsteckte, fiel ein Schuss.
    Booth blickte verstört zu Tom und griff sich dann mit der Hand an den Hals, aus dem ein pulsierender Schwall Blut herausrann. Dann kippte er zur Seite.
    Tom sah den Gewehrlauf in einem Spalt zwischen den Brettern der Scheune und dahinter das Gesicht von Sergeant Boston Corbett, einem Kerl mit wirrem Blick, der in Friedenszeiten Hutmacher gewesen war. Tom hatte schon während der mehrtägigen Verfolgungsjagd zur Scheune vermutet, dass Corbett in seiner Hutmacherwerkstatt zu viel Quecksilber eingeatmet hatte. Der Kerl war offensichtlich krank.
    In Corbetts Augen glomm Stolz darauf, dass er den Mörder des Präsidenten erschossen hatte.
    Dann waren die anderen hereingestürmt und hatten den blutenden Booth nach draußen gezerrt.
    Tom spürte, wie seine Kehle trocken wurde vor Zorn und seine Schläfen glühten. Er war nach draußen gerannt, um Corbett niederzuschlagen, aber da stand der Sergeant schon mit auf den Rücken gedrehten Armen vor Colonel Conger. Corbett hatte nur gelacht, als Conger ihn wegen Befehlsverweigerung abführen ließ. Es dauerte noch drei Stunden, bis Booth starb. Sein Tod hatte für Tom dennoch den faden Beigeschmack, dass er es zu leicht gehabt hatte.
    Bleiben Sie gut, Thomas. Bleiben Sie gerecht.
    War er gut geblieben? Und gerecht? In der Scheune? Und hier im Schlachthof? Niemand würde ihm glauben, dass es Huck gewesen war, der abgedrückt hatte, obwohl ein halbes Dutzend Männer um ihn herumgestanden hatte. Und das Schlimmste war, dass man ihn dazu auch noch beglückwünschen und ihn einen tollen Kerl nennen würde.
    Warum hatte er gestern Abend bei Richter Thatcher nicht unterschrieben und die Stadt verlassen? Warum hatte er sich eingemischt und Joe Harper zu Huck geführt? Was in Gottes Namen würde Becky dazu sagen? Würde sie ihm glauben? Und warum zum Teufel war es ihm so wichtig, was Becky sagen würde?
    Am Horizont erhob sich träge die Morgensonne. Der Hund neben ihm schnarchte. Tom stand auf und ging zum Abgrund. Ein Sprung, und er würde für immer schlafen.
    Tom schob seine Füße ein Stückchen vor, bis seine Stiefelspitzen über den Abgrund ragten. Er schwankte nicht mehr. Inzwischen war er nüchtern. Glasklar. Die Baumwipfel am Illinois-Ufer sahen im ersten Morgenlicht aus, als würden sie in Flammen stehen, und im Fluss spiegelte sich der wolkenlose Himmel. Der Mississippi lag im Tal wie eine silberne Schlange. Hatte Huck Tante Polly wirklich umgebracht?
    Und wenn ja, warum?
    Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.
    ~~~
    Der Magnesiumblitz flammte auf und tauchte die Welt in gleißendes Weiß. Einen Moment lang waren alle geblendet. Sie zuckten zusammen, manche schrien erschrocken auf. Aber dann zog der spindeldürre

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