Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Fotograf mit den fettigen Haaren die belichtete Platte aus dem unförmigen Apparat und sagte schlicht: »Danke, das war’s.« Er nickte Becky zu, und der Trubel begann von Neuem.
»Wo haben Sie ihn gefasst, Sheriff?«
»War er allein?«
»Hat er jemanden verletzt?«
»Wer hat geschossen?«
Die Leute riefen ihre Fragen wild durcheinander, und Becky wurde vom Telegrafisten der Western Union so unsanft zur Seite geschoben, dass sie fast ihren Schreibblock fallen ließ. Sie winkelte die Ellenbogen ab und eroberte ihren Platz direkt vor der Veranda des Sheriffsbüros zurück.
Joe Harper hob beschwichtigend die Arme, und die Menge wurde etwas leiser. »Aber bitte, bitte, Gentlemen …«, er entdeckte Becky im Gewühl und grinste ihr gönnerhaft zu, »… und Ladys, natürlich! Ich werde alle Fragen beantworten. Der Reihe nach und ganz in Ruhe, wie sich das für St. Petersburg gehört. Eine Stadt, in der die Ordnung und das Gesetz herrschen, nicht zuletzt, wenn Sie mir das gestatten, dank meiner schlagkräftigen Truppe und ihrem unermüdlichen Einsatz unter meiner Leitung!«
Beifall brandete auf. Harper hakte die Daumen in die Ärmelausschnitte seiner Weste und grinste. Becky stöhnte auf. Das war zu erwarten gewesen: Joe Harpers Ansprache zu den nächtlichen Ereignissen im ehemaligen Schlachthof geriet zu einer Wahlrede in eigener Sache.
Die Menge vor dem Büro des Sheriffs bestand aus etwa zwei Dutzend Bürgern, Händlern, Farmern und Flößern; auch Frauen und Kinder waren dabei. Ein paar Schwarze standen abseits bei McLintocks Schmiede und beobachteten das Spektakel ebenfalls. Die Nachricht, dass man Huck gefunden hatte, hatte sich noch in der Nacht in Windeseile von Haus zu Haus verbreitet, und in den frühen Morgenstunden hatte sich eine Traube um Joe Harpers Büro gebildet. Und Joe gedachte natürlich, diese Tatsache zu nutzen.
Jim Hollis stand, auf einem Grashalm kauend, mit verschränkten Armen hinter dem Sheriff. In der Armbeuge trug er lässig sein altes Gwyn & Campbell-Gewehr. Billy Fisher, der feiste zweite Hilfssheriff, lehnte an einer Fensterbank des Sheriffsbüros, trank einen Becher Erbsenkaffee und blickte streng über die Köpfe der Menge hinweg, als wäre ein Hinterhalt der Indianer aus der Richtung des Anlegers zu erwarten. Die Männer genossen ihren Triumph. Der sonst eher tapsig wirkende Sheriff hatte sich gestrafft und schien mit einem Mal aufrechter zu gehen.
»Lassen Sie mich zunächst eine neutrale Schilderung der gestrigen Ereignisse abgeben, wie sie sich zugetragen haben und wie ich sie dem Bürgermeister und auch Richter Thatcher berichtet habe!« Joe Harper hob eine Hand und wedelte unbestimmt in Richtung des Cardiff Hill, während er auf der Veranda auf und ab ging wie ein Professor vor seinen Studenten. »Huck Finn, dessen Schuld an der Ermordung der allseits beliebten Bürgerin Polly Sawyer nun nicht mehr bezweifelt werden kann, wurde gestern Abend kurz nach Sonnenuntergang vom geschätzten Küfer Gustavson entdeckt, als er um die Gerberei im Süden der Stadt herumschlich. Zweifellos, um sich an den Hühnerställen der Gustavsons zu schaffen zu machen, deren Garten an die Gerberei angrenzt. Gustavson schickte seinen Jungen, um mich zu holen. Unter meiner Leitung brach eine Gruppe furchtloser Männer auf, um Finn zu verfolgen, der inzwischen zu Fuß auf den Cardiff Hill geflohen war. Zunächst vermuteten einige, er wolle zur Witwe Douglas, doch mein Riecher sagte mir etwas anderes …«
Joe Harper blieb stehen, ließ den Blick über die Menge wandern und klopfte mit dem Zeigefinger gegen seine Nase. Die Leute hingen an seinen Lippen. Becky stöhnte erneut und notierte Joes Geschwafel auf ihrem Schreibblock.
Nach einer bedeutungsvollen Pause nahm Joe Harper seinen Spaziergang vom einen Ende der Veranda zum anderen wieder auf. »Finn änderte seine Richtung! In einem Bach, wo die Bluthunde seine Spur nicht wittern konnten, stieg er den Hügel wieder hinab, doch ich fand seine Spuren, und wir umstellten den Schlachthof, wo der Mörder sich verschanzt hatte.«
»Und dann? Wer hat geschossen?«
»Stimmt es, dass es Tom Sawyer war?«
Becky zuckte zusammen. Sie hatte bereits Gerüchte gehört, aber sie konnte nicht glauben, dass Tom seinen ältesten Freund erschossen hatte.
Wieder hob Joe Harper beschwichtigend die Hände. »Tom Sawyer war auch dabei. Niemand kann ihm verdenken, dass er voller Zorn und voller Wut und, ja, voller Hass war auf den Mann, der einmal sein Freund war,
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