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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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und fehl baren Mechanismus bedeutungsloser Sequenzen, unzusammenhängender Gedächtniseindrücke ausgeliefert, sondern ging auf in einer Handlung, in die sein ganzes Wesen einfloß. Sie stellte eine organische Kontinuität und Einheit dar, die mit Bedeutung und Gefühlen erfüllt und so fugenlos war, daß sie keinen Bruch zuließ.
    Es lag auf der Hand, daß Jimmie sich selbst, daß er Kontinuität und Realität in der Absolutheit spiritueller Hingabe wiederfand. Die Schwestern hatten recht gehabt: Hier, im Gottes dienst, fand er seine Seele. Und auch Lurijas Worte, die mir jetzt wieder einfielen, bestätigten sich: «Ein Mensch besteht nicht nur aus dem Gedächtnis. Er verfügt auch über Gefühle und Empfindungen, über einen Willen, über moralische Grundsätze... in diesem Bereich... finden Sie vielleicht eine Möglichkeit, ihn zu erreichen und eine Veränderung herbeizuführen. » Das Gedächtnis, geistige Aktivitäten, der Intellekt allein vermochten ihn nicht so vollständig in Bann zu schlagen wie innerliche, ethische Hingabe und Handlung.
    Aber «ethisch» ist vielleicht ein zu enger Begriff, denn ästhetische und dramatische Elemente hatten dieselbe Wirkung. Das Erlebnis, Jimmie in der Kirche zu beobachten, schärfte meinen Blick für andere Bereiche, in denen die Seele durch Teilhabe und Hingabe angesprochen, eingebunden und getröstet wird. Dieselbe tiefe Versenkung und Aufmerksamkeit stellte sich auch in Verbindung mit Musik und Kunst ein: Er hatte keinerlei Schwierigkeiten, einem Musikstück oder einem einfachen Theaterstück zu «folgen», denn in der Kunst enthält jeder Moment andere Momente, auf die er sich bezieht. Auch fand Jimmie Gefallen an Arbeiten, die er in unserem Garten übernommen hatte. Zunächst schien ihm dieser jeden Tag neu zu sein, aber aus irgendeinem Grund war er damit bald vertrauter als mit den Räumlichkeiten des Heims. Er verlief sich fast nie im Garten. Ich glaube, das gedankliche Bild, das er sich von ihm machte, entsprach dem Muster der Gärten in Connecticut, an die er sich erinnerte und die er in seiner Jugend geliebt hatte.
    In der extensionalen, «räumlichen» Zeit war Jimmie völlig verloren, aber die Einteilung der Bergsonschen «intensionalen» Zeit bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten; was als formale Struktur flüchtig und vergänglich war, wurde als Kunst und Wille völlig stabil und greifbar. Außerdem war da noch etwas, das den Augenblick überdauerte. Wenn Jimmie von einer Aufgabe, einem Rätsel, einem Spiel oder einer Berechnung kurz «fasziniert» war, wenn er sich ihrer rein intellektuellen Herausforderung stellte, dann fiel er, sobald diese Aufgabe bewältigt war, in seine Amnesie, in den Abgrund seines Nichts. Aber wenn seine Aufmerksamkeit emotional oder spirituell beansprucht war - zum Beispiel bei der Betrachtung von Kunstwerken oder der Natur, wenn er Musik hörte oder an der Messe teilnahm-, dann bestand diese Aufmerksamkeit, ihre «Stimmung» und ihre innere Ruhe, noch eine Weile fort, und er strahlte eine Nachdenklichkeit und einen Frieden aus, den wir sonst, wenn überhaupt, nur selten an ihm bemerkten.
    Ich kenne Jimmie jetzt seit neun Jahren, und neuropsychologisch betrachtet hat sich sein Zustand nicht im geringsten verändert. Er hat immer noch ein äußerst ernstes, tiefreichendes Korsakow-Syndrom, kann isolierte Eindrücke nicht länger als einige Sekunden behalten und leidet an einer schweren Amnesie, die bis zum Jahre 1945 zurückreicht. Aber in menschlicher, spiritueller Hinsicht ist er manchmal ein völlig anderer Mensch - nicht verwirrt, ruhelos, gelangweilt und verloren, sondern von einer tiefen Achtsamkeit für die Schönheit und die Seele der Welt. Die Kierkegaardschen Kategorien - das Ästhetische, das Ethische, das Religiöse, das Dramatische - sind bei ihm stark ausgeprägt. Als ich ihm das erste Mal begegnet war, hatte ich mich gefragt, ob er, wie das Geschöpf, das Hume beschrieben hat, zur bedeutungslosen Existenz eines Blattes im Wind des Lebens verurteilt sei und ob es für ihn eine Möglichkeit gebe, die durch seine «Humesche Krankheit» hervorgerufene Zusammenhangslosigkeit seines Lebens zu transzendieren. Der empirischen Wissenschaft zufolge besteht diese Möglichkeit nicht aber die empirische Wissenschaft, der Empirismus, läßt die Seele und das; was das persönliche Wesen bestimmt und ausmacht, außer acht. Vielleicht läßt sich hieraus sowohl eine philosophische als auch eine klinische Lehre ziehen: daß in Fällen

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