Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
von Korsakow-Syndrom, Demenz und anderen Katastrophen, wie groß auch immer das Ausmaß des organischen Schadens und der Humeschen Auflösung der Kontinuität sein mag, immer noch die Möglichkeit der Wiedereingliederung durch die Kunst, durch die Gemeinschaft mit Menschen und durch das Anrühren des menschlichen Geistes besteht. Und dieser menschliche Geist kann auch dann bewahrt werden, wenn es sich auf den ersten Blick um einen hoffnungslosen Fall neurologischer Zerstörung zu handeln scheint.
Nachschrift
Ich weiß inzwischen, daß retrograde Amnesie im Zusammen hang mit dem Korsakow-Syndrom sehr häufig, wenn nicht sogar immer auftritt - jedenfalls in gewissem Umfang. Das klassische Korsakow-Syndromeine tiefgreifende und permanente, «reine» Auslöschung des Gedächtnisses infolge einer Zerstörung der Mammillarkörper durch Alkoholist, auch bei sehr starken Trinkern, selten. Man begegnet dem Korsakow Syndrom natürlich auch bei anderen Erkrankungen, wie Lurijas Tumorpatienten beweisen. Eine besonders faszinierende Form eines akuten (und erfreulicherweise vorübergehenden) Korsakow-Syndroms ist erst kürzlich sehr gut im Krankheitsbild der sogenannten Transitorischen globalen Amnesie (TGA) beschrieben worden, die im Zusammenhang mit Migräne, Kopfverletzungen oder einer Beeinträchtigung der Blutzufuhr zum Gehirn auftritt. Hier kann es für einige Minuten oder Stunden zu einer schweren und ungewöhnlichen Amnesie kommen, auch wenn der Patient weiterhin Auto fährt oder seine beruflichen Aufgaben auf mechanische Art und Weise erfüllt. Aber unter dieser oberflächlichen Kompetenz verbirgt sich eine hochgradige Amnesie: Jeder Satz ist, kaum gesprochen, schon wieder vergessen, alle Eindrücke sind, kaum wahrgenommen, wieder gelöscht, obwohl lange beste hende Erinnerungen und Routineabläufe vollständig erhalten bleiben können. (Einige sehr aufschlußreiche Video - Aufnahmen von Patienten mit TGA-Schüben hat vor kurzem, 1986, der Oxforder Mediziner John Hodges gemacht.)
Weiterhin kann es in solchen Fällen zu einer starken retrograden Amnesie kommen. Mein Kollege Leon Protass erzählte mir von einem solchen Fall, den er kürzlich gesehen hat: Der Patient, ein hochintelligenter Mann, konnte sich einige Stunden lang nicht an seine Frau oder seine Kinder erinnern, ja nicht einmal daran, daß er überhaupt Frau und Kinder hatte. Er hatte - glücklicherweise nur einige Stunden lang - praktisch dreißig Jahre seines Lebens verloren. Die Genesung von solchen Anfällen ist rasch und vollständig - aber sie sind in gewisser Weise erschreckende «kleine Schlaganfälle», da sie Jahrzehnte eines reichen, erfüllten, umfassend erinnerlichen Lebens ganz und gar auslöschen können. Es ist typisch, daß nur Außenstehende diesen Schrecken empfinden. Der Patient, dem seine Amnesie ja nicht bewußt ist, mag mit dem, was er gerade tut, unbekümmert fortfahren und erst später merken, daß er nicht nur einen Tag (wie es bei gewöhnlichen Blackouts infolge von Alkoholvergiftung normal ist), sondern, ohne es zu wissen, ein halbes Leben verloren hat. DieTatsache, daß die Erinnerung an einen großen Teil des Lebens einfach so verschwinden kann, hat etwas Unheimliches und Erschreckendes.
Bei einem Erwachsenen können die hochentwickelten geistigen Fähigkeiten durch Schlaganfälle, Senilität, Hirnverletzungen usw. ein vorzeitiges Ende finden, aber gewöhnlich bleibt das Bewußtsein, daß man ein Leben gelebt und eine Vergangenheit hinter sich hat, ein Bewußtsein, das oft der Kompensation dient: «Wenigstens habe ich vor dieser Hirnverletzung, diesem Schlaganfall usw. ein erfülltes Leben gehabt. » Genau dieses tröstliche oder auch quälende Gefühl eines «gelebten Lebens» fällt der retrograden Amnesie zum Opfer. Jene «retrograde Amnesie, die ein ganzes Leben auslöschen kann», von der Bunuel spricht, mag vielleicht im Endstadium einer Demenz auftreten, nach meinen Erfahrungen jedoch nicht als plötzliche Folge eines Schlaganfalls. Es gibt aber eine andere, vergleichbare Art der Amnesie, die plötzlich erfolgen kann - anders insofern, als sie nicht «umfassend», sondern «modalitätsspezifisch» ist.
So kam es bei einem meiner Patienten zu einer plötzlichen Thrombose in den hinteren Blutgefäßen des Gehirns, die den sofortigen Untergang des Sehzentrums zur Folge hatte. Der Patient erblindete vollständig, aber er wußte es nicht. Er bewegte sich wie ein Blinder, aber er beklagte sich nicht darüber. Gespräche und
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