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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Erträglichen führte. Er muß sich gefühlt haben wie in einem Alptraum. So gesehen war es ein Segen, daß er sich schon nach wenigen Minuten nicht mehr daran erinnern konnte.
    Diese in der Vergangenheit gefangenen Menschen können sich nur in der Vergangenheit zurechtfinden und zu Hause fühlen. Für sie steht die Zeit still. jedesmal, wenn Stephen R. zu uns zurückkehrt, schreit er vor Entsetzen und Verwirrung - er schreit nach einer Vergangenheit, die nicht mehr existiert. Aber was können wir tun? Sollen wir eine Zeitkapsel schaffen, eine Fiktion aufbauen? Mit Ausnahme vielleicht von Rose R., deren Geschichte ich in ‹Bewußtseinsdämmerungen› geschildert habe, ist mir nie ein Patient begegnet, den der Anachronismus der Welt, mit der er konfrontiert war, so gequält hat wie ihn.
    Jimmie hat einen gewissen Frieden gefunden; William (siehe Kapitel 12) erhält seine Welt durch ständiges Geplauder auf recht; aber Stephen hat eine klaffende, unendlich schmerzhafte Zeit - Wunde davongetragen, die nie verheilen wird.
3
Die körperlose Frau
    Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken - weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf.
    LUDWIG WITTGENSTEIN
     
    Was Wittgenstein hier über die Erkenntnistheorie schreibt, ließe sich auch auf Aspekte der Physiologie und Psychologie anwenden - vor allem auf das, was Sherrington «unseren verborgenen sechsten Sinn» genannt hat, jenen ständigen, unbewußten Fluß von Informationen über die beweglichen Teile unseres Körpers (Muskeln, Sehnen, Gelenke). Mit ihrer Hilfe werden Haltung, Muskeltonus und Bewegungen unablässig überwacht und den jeweiligen Umständen angepaßt. Da dies jedoch automatisch und unwillkürlich geschieht, merken wir nichts davon.
    Das Wirken unserer anderen fünf Sinne ist deutlich zu er kennen, aber dieser - unser verborgener Sinn - mußte gewissermaßen erst entdeckt werden, und zwar von Sherrington in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Er nannte ihn «Propriozeption» (Eigenwahrnehmung), um ihn von der «Extrozeption» (Wahrnehmung von Außenreizen) und der «Interozeption» (Wahrnehmung von Innenreizen) zu unterscheiden und um herauszuheben, daß dieser Sinn für die Wahrnehmung unserer selbst unerläßlich ist. Nur durch die Eigenwahrnehmung sind wir nämlich in der Lage, unseren Kör per als zu uns gehörig, als unser «Eigentum», als uns selbst zu erleben (Sherrington 1906, 1940).
    Denn was ist für uns von elementarerer Bedeutung als die Steuerung, der Besitz und die Handhabung unseres physischen Selbst? Und doch geschieht dies so automatisch und selbstverständlich, daß wir nie einen Gedanken darauf verschwenden.
    Normalerweise stellen wir den Körper nie in Frage, da er über jeden Zweifel erhaben ist- er ist einfach unzweifelhaft da. Dieses unbestreitbare Vorhandensein des Körpers, die Gewissheit seiner Existenz, ist für Wittgenstein der Ausgangspunkt allen Wissens und aller Gewißheit. So beginnt sein letztes Buch «Über Gewißheit» mit den Worten: «Wenn du weißt, daß hier eine Hand ist, so geben wir dir alles übrige zu. » Aber einige Zeilen später folgt der Satz: «Wohl aber läßt sich fragen, ob man dies sinnvoll bezweifeln kann. » Und wenig später heißt es: «Braucht man zum Zweifel nicht Gründe? Wohin ich schaue, ich finde keinen Grund, daran zu zweifeln, daß ... »
    Sein Buch könnte auch «Ober Zweifel» heißen, denn damit beschäftigt er sich ebensosehr wie mit der Gewißheit. Insbesondere befaßt er sich mit der Frage -und der Leser wiederum mag sich fragen, inwieweit diese Gedanken der Arbeit mit Patienten, in einem Krankenhaus oder Lazarett entsprangen-, ob es Situationen oder Umstände geben könnte, die die Körper Gewißheit aufheben und Zweifel an seiner Existenz aufsteigen lassen, Zweifel, die vielleicht so existentiell sind, daß man durch sie den ganzen Körper verliert. Dieser Gedanke durchzieht Wittgensteins letztes Buch wie ein Alptraum.
     Christina war siebenundzwanzig Jahre alt, als ich sie kennen lernte - eine kräftige, selbstbewußte, körperlich wie geistig robuste Frau, die Hockey spielte und gern ritt. Sie hatte zwei kleine Kinder und arbeitete zu Hause als Computerprogrammiererin. Sie war intelligent und gebildet und schwärmte für Ballett und die Dichter der englischen Hochromantik (nicht aber für Wittgenstein, würde

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