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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Untersuchungen ergaben zweifelsfrei, daß er nicht nur zentral oder «kortikal» blind war, sondern auch alle visuellen Bilder und Erinnerungen völlig verloren hatte - und doch entwickelte sich bei ihm kein Gefühl für den Verlust. Er hatte keinen Begriff mehr davon, was es heißt zu sehen, und er war unfähig, etwas visuell zu beschreiben, ja sogar verwirrt, wenn ich Worte wie «sehen» oder «Licht» gebrauchte. Er war zu einem Wesen geworden, für das «sehen» nicht existiert. Die visuellen Eindrücke, die er ein Leben lang gesammelt hatte, waren ihm abhanden gekommen, im Augenblick des Schlaganfalls für immer ausgelöscht worden. Eine solche visuelle Amnesie, eine Blindheit für die Blindheit sozusagen, eine Amnesie der Amnesie, stellt praktisch ein «totales», auf die Visualität beschränktes Korsakow-Syndrom dar.
    Eine noch enger begrenzte, aber nicht weniger totale Amnesie kann sich, wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben, auch auf eine bestimmte Form der Wahrnehmung beziehen. Bei Dr. P., dem «Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», handelte es sich um eine absolute «Prosopagnosie» oder Agnosie für Gesichter: Er konnte keine Gesichter mehr erkennen, ja war nicht einmal in der Lage, sich irgendwelche Gesichter vorzustellen oder sich an sie zu erinnerner hatte die Vorstellung davon verloren, was ein «Gesicht» ist, so wie der Patient, dessen Fall ich eben kurz geschildert habe, keine Vorstellung von «sehen» oder «Licht» hatte. Solche Syndrome hat Gabriel Anton in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts beschrieben, aber mit den Implikationen des Korsakow-Syndroms und des Anton-Syndroms, mit den Auswirkungen auf die Realität, das Leben und die Identität der betroffenen Patienten hat man sich bis auf den heutigen Tag kaum beschäftigt.
    Wir überlegten manchmal, wie Jimmie wohl reagieren würde, wenn wir ihn in seine Heimatstadt, also praktisch in die Zeit vor seiner Amnesie, zurückbringen würden, aber der kleine Ort in Connecticut hatte sich im Laufe der Zeit in eine Großstadt verwandelt. Später hatte ich Gelegenheit herauszufinden, was unter solchen Umständen geschieht, wenn auch mit einem anderen Patienten. Stephen R. war 1980 am Korsakow Syndrom erkrankt, und seine retrograde Amnesie erstreckte sich nur auf etwa zwei Jahre. Bei diesem Patienten, dessen schwere Anfälle, spastische Krämpfe und andere Störungen eine stationäre Behandlung erforderlich machten, kam es während seiner seltenen Wochenendbesuche zu Hause zu er schütternden Szenen. In der Klink erkannte er nichts und niemanden und befand sich auf Grund seiner Desorientiertheit fast unaufhörlich in einem Zustand der Erregung. Aber wenn seine Frau ihn abholte und mit ihm nach Hause fuhr, war ihm dort, in dieser «Zeitkapsel», sofort alles vertraut. Er erkannte alle Gegenstände, klopfte auf das Barometerglas, überprüfte die Einstellung des Thermostats und setzte sich in seinen Lieblingssessel, wie er es immer getan hatte. Er sprach über die Nachbarn, die Läden, die Eckkneipe und das Kino in der Nähe, als sei seit Mitte der siebziger Jahre alles so geblieben, wie es war. Die kleinsten Veränderungen im Haus beunruhig ten und verwirrten ihn. («Du hast andere Vorhänge aufgehängt!» stellte er seine Frau einmal zur Rede. «Wieso? Und warum so plötzlich? Heute morgen waren sie noch grün. » Da bei hatte seine Frau die Vorhänge schon 1978 ausgetauscht.) Er erkannte die meisten Nachbarhäuser und Läden wieder - sie hatten sich zwischen 1978 und 1983 nur wenig verändert -war aber erstaunt, daß das Kino nicht mehr da war. («Wie haben sie das nur geschafft, es abzureißen und über Nacht einen Supermarkt hinzustellen?») Auch Freunde und Nachbarn erkannte er wieder, fand aber, daß sie älter aussahen, als er es erwartet hatte. («Der gute alte Soundso! Er ist ja ganz schön alt geworden. Habe ich vorher nie bemerkt. Wie kommt es, daß alle auf einmal so alt aussehen?») Aber das wirklich Schreckliche, Erschütternde seiner Situation trat am deutlichsten zutage, wenn er wieder zu uns zurückkehrte: Für ihn war es absurd und völlig unerklärlich, daß seine Frau ihn in ein Heim brachte, das er nicht kannte und in dem Leute wohnten, die er noch nie gesehen hatte, und ihn dann allein ließ. Er war außer sich vor Verwirrung. «Was machst du?» schrie er. «Wo zum Teufel bin ich hier? Was geht hier eigentlich vor?» Bei diesen Szenen dabeizusein war eine Erfahrung, die uns an die Grenze des

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