Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Systeme», die eine «Gnosis», einen auf Erkennen gerichteten Einsatz der Hände, ermöglichen, in solchen Fällen infolge von Verletzung, Operation und der Tatsache, daß der Gebrauch der Hände wochen- und monatelang unterbrochen war, «abgespalten» sein können. In Madeleine J. s Fall jedoch dauerte dieser Zustand bereits ein Leben lang, obwohl es sich um dasselbe Phänomen handelte: «Nutzlosigkeit», «Leblosigkeit» und «Entfremdung». Sie mußte nicht lediglich wieder lernen, ihre Hände zu gebrauchen - sie mußte sie vielmehr erst noch entdecken, sie sich zu eigen machen, sie ihrer Bestimmung zuführen. Sie mußte nicht nur ein abgespaltenes gnostisches System wiedererlangen, sondern sich ein gnostisches System aufbauen, über das sie nie verfügt hatte. War das möglich?
Die verwundeten Soldaten, über die Leontjew und Zaporozec schrieben, hatten vor ihrer Verletzung normal entwickelte Hände gehabt. Sie mußten sich nur an das «erinnern», was infolge ihrer schweren Verwundung «vergessen» oder «abgespalten» oder «deaktiviert» worden war. Madeleine dagegen konnte auf keinerlei Erinnerungen zurückgreifen, denn sie hatte weder ihre Arme noch ihre Hände je gebraucht- sie hatte ja das Gefühl, keine Hände zu besitzen. Sie hatte nie selbst gegessen, war nie allein auf die Toilette gegangen, hatte sich nie selbst etwas genommen. Sie hatte sich immer von anderen helfen lassen. Sechzig Jahre lang hatte sie gelebt, als sei sie ein Wesen ohne Hände.
Dies also war die Herausforderung, vor der wir standen: Wir hatten es mit einer Patientin zu tun, die über ein vollkommen entwickeltes elementares Empfindungsvermögen in den Händen verfügte, diese Empfindungen jedoch offenbar nicht auf der Ebene derjenigen Wahrnehmungen zu integrieren vermochte, die eine Beziehung zur Welt und zu sich selbst herstellen. In bezug auf ihre «nutzlosen» Hände konnte sie nicht sagen «Ich nehme wahr, ich erkenne, ich will, ich handle». Dennoch mußten wir sie (ebenso wie Leontjew und Zaporozec ihre Patienten) irgendwie dazu bringen, zu handeln und ihre Hände aktiv zu gebrauchen, und wir hofften, dadurch eine Integration zu erreichen. «Die Integration liegt im Handeln», schreibt Roy Campbell.
Madeleine war mit all dem einverstanden, ja sie war sogar fasziniert, wenn auch verwirrt und nicht sehr hoffnungsvoll. «Wie kann ich denn irgend etwas mit meinen Händen tun, wenn sie nichts weiter sind als zwei Klumpen Knete?» fragte sie.
«Im Anfang war die Tat», heißt es im ‹Faust›. Das mag stimmen, wenn wir in einem ethischen oder existentiellen Zwiespalt stecken, nicht aber, wenn es um den Ursprung von Wahrnehmung und Bewegung geht. Und doch geschieht auch hier immer etwas Unvermitteltes: ein erster Schritt (oder ein erstes Wort, wie Helen Kellers «Wasser»), eine erste Bewegung, eine erste Wahrnehmung, ein erster Impuls - etwas, das «aus heiterem Himmel» geschieht, wo vorher nichts beziehungsweise nichts Sinnvolles war. «Im Anfang ist der Impuls.» Nicht eine Tat, nicht ein Reflex, sondern ein «Impuls», der eindeutiger und gleichzeitig doch geheimnisvoller ist als eine Tat oder ein Reflex... Wir konnten zu Madeleine nicht sagen: «Tun Sie etwas! », aber wir konnten auf einen Impuls hoffen, wir konnten einem solchen Impuls den Weg bahnen, wir konnten sogar versuchen, ihn herbeizuführen...
Mir fiel ein, wie Säuglinge die Hand nach der Brust ihrer Mutter ausstrecken. «Stellen Sie Mrs. J.s Essen bei Gelegenheit, wie aus Versehen, etwas außerhalb ihrer Reichweite hin», sagte ich zu ihren Pflegerinnen. «Lassen Sie sie nicht hungern, und quälen Sie sie nicht. Zeigen Sie sich einfach etwas weniger bemüht als sonst, ihr zu helfen.» Und eines Tages geschah etwas, was noch nie zuvor geschehen war: Anstatt passiv und ergeben zu warten, streckte sie hungrig und ungeduldig den Arm aus, tastete auf dem Tisch umher, fand einen Teigkringel und führte ihn zum Mund. Dies war das erste Mal in sechzig Jahren, daß sie ihre Hände gebrauchte - ihre erste manuelle Handlung. Es war ihre Geburtsstunde als «motorisches Individuum» (Sherringtons Bezeichnung für die Person, die sich handelnd manifestiert). Es war dies auch ihre erste manuelle Wahrnehmung und damit auch ihre Geburtsstunde als vollständiges «wahrnehmendes Individuum». Ihr erstes Wahrnehmen, ihr erstes Erkennen galt einem Kringel beziehungsweise der «Kringelheit» - so wie Helen Kellers erstes Erkennen, ihre erste Äußerung, dem Wasser, der
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