Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Ansprache des Präsidenten lauschten, gehörte auch Emily D. Sie hatte ein Gliom in ihrem rechten Schläfenlappen. Als ehemalige Englischlehrerin und recht bekannte Lyrikerin, die, in sprachlicher Analyse wie im Ausdruck, über ein außergewöhnliches Sprachgefühl verfügte, konnte sie sehr gut artikulieren, wie die Rede des Präsidenten für einen Menschen klang, der an tonaler Agnosie litt. Sie konnte nicht mehr sagen, welche Gefühle eine Stimme ausdrückte, ob sie wütend, fröhlich oder traurig klang. Da Stimmen für sie keinen Ausdruck mehr hatten, mußte sie auf die Gesichter der Menschen, ihre Haltung und ihre Bewegungen achten, wenn sie sprachen, und das tat sie mit einer Aufmerksamkeit und Intensität, die sie noch nie zuvor an sich festgestellt hatte. Doch auch darin war sie mehr und mehr beeinträchtigt, denn sie hatte ein bösartiges Glaukom, und ihr Sehvermögen verschlechterte sich rapide.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als auf äußerste Genauigkeit in Sprache und Sprachgebrauch zu achten und darauf zu bestehen, daß die Menschen in ihrer Umgebung dasselbe taten. Sie hatte wachsende Schwierigkeiten, Unterhaltungen zu folgen, die in Umgangssprache oder Slang geführt wurden und in denen Gefühle oder Anspielungen eine Rolle spielten, und bat ihre Gesprächspartner immer häufiger, Prosa zu sprechen - «das rechte Wort am rechten Platz». Dadurch, so stellte sie fest, ließ sich die fehlende Wahrnehmung von Tonfall oder Gefühl in gewissem Umfang ausgleichen.
Auf diese Weise war sie imstande, den Gebrauch der «darstellenden» Sprache (in der die Bedeutung ganz und gar durch die richtige Wahl der Wörter und ihre Beziehung zueinander vermittelt wird) beizubehalten und sogar auszuweiten, während sie mehr und mehr das Gefühl für die «evokative» Sprache (in der die Bedeutung vom Einsatz und Verständnis des Tonfalls abhängt) verlor.
Mit steinernem Gesicht hörte auch Emily D. der Rede des Präsidenten zu und unterlegte sie mit einer seltsamen Mischung aus verstärkten und fehlerhaften Wahrnehmungen - genau das Gegenteil von dem, was unsere Aphasie-Patienten taten. Die Rede bewegte sie nicht - kein gesprochenes Wort rief mehr eine Regung in ihr hervor -, und alles, was Emotionen ausdrückte, seien es echte oder gespielte, ging völlig an ihr vorbei. War diese Frau, für die gesprochene Worte keine Gefühle mehr vermittelten, nun ebenso fasziniert und mitgerissen wie wir? Keineswegs. «Er ist nicht überzeugend», sagte sie. «Er spricht keine gute Prosa. Er gebraucht die falschen Worte. Entweder ist er hirngeschädigt, oder er hat etwas zu verbergen. » Die Rede des Präsidenten zeigte also bei Emily D. infolge ihres sensibilisierten Gefühls für den Gebrauch formaler Sprache und für die Angemessenheit gesprochener Prosa ebensowenig Wirkung wie bei unseren Aphasie-Patienten, die die Bedeutung der Worte zwar nicht mehr erkannten, aber eine große Sensibilität für den Tonfall besaßen.
Das war also das Paradoxon der Präsidenten-Rede. Wir «Normalen» wurden, zweifellos beeinflußt durch unseren Wunsch, hinters Licht geführt zu werden, tatsächlich und gründlich hinters Licht geführt («Populus vult decipi, ergo deci piatur»). Die Täuschung durch die Worte war, im Verein mit der Täuschung durch den irreführenden Tonfall, so gekonnt, daß nur die Hirngeschädigten davon unbeeindruckt blieben.
TEIL ZWEI
Überschüsse
Einleitung
Das Lieblingswort in der Neurologie ist, wie gesagt, «Aus fall». Es ist sogar deren einzige Bezeichnung für jegliche Beeinträchtigung einer Funktion. Entweder ist die Funktion (wie ein Kondensator oder eine Sicherung) normal, oder sie ist fehlerhaft und unvollkommen - welche andere Möglichkeit besteht denn schon in dem mechanistischen Konstrukt der Neurologie, das im wesentlichen nichts anderes ist als ein System von Fähigkeiten und Verbindungen?
Aber wie steht es mit dem Gegenteil: einem Überschuß oder Überfluß an Funktion? In der Neurologie gibt es kein Wort dafür, weil diese Vorstellung nicht existiert. Eine Funktion, ein funktionales System, wird den Anforderungen entweder gerecht oder versagt - eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Daher stellt eine Krankheit, deren Hauptmerkmal das «Über schäumende», das «Produktive» ist, die grundlegenden mechanistischen Konzepte der Neurologie in Frage, und dies ist zweifellos ein Grund dafür, warum solche Störungen - so verbreitet, bedeutsam und faszinierend sie sind - nie mit der
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