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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Migräne auftraten, begegneten mir häufig bei postenzephalitischen Patienten, die durch das verabreichte L-Dopa in einen Erregungszustand versetzt worden waren - so häufig, daß ich L-Dopa zuweilen als eine Art «individueller Zeitmaschine» bezeichnete. Bei einer Patientin war diese Entwicklung so dramatisch, daß ich sie in einem Leserbrief beschrieb, der im Juni 1970 in der Fachzeitschrift Lancet erschien und in diesem Kapitel abgedruckt ist. In diesem Brief betrachtete ich «Erinnerung» im strengen Jacksonschen Sinne als ein konvulsives Aufwallen von Gedächtnisinhalten aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Später, als ich die Geschichte dieser Patientin (Rose R.) in ‹Bewusstseinsdämmerungen› schilderte, dachte ich weniger an den Begriff «Erinnerung)) als vielmehr an «Stillstand» («Ist sie im Jahre 1926 stehengeblieben?» schrieb ich) - und dies waren auch die Worte, mit denen Harold Pinter seine Deborah in ‹Eine Art Alaska› beschrieb.
    «Bei bestimmten postenzephalitischen Patienten ist eine der erstaunlichsten Wirkungen von L-Dopa die Reaktivierung von Symptomen und Verhaltensmustern, die in einem viel früheren Stadium der Krankheit vorhanden waren, später jedoch (verlorengingen›. Wir sind in diesem Zusammenhang bereits auf das Wiederauftreten oder die Verschärfung von respiratorischen und okulogyrischen Krisen, iterativen Hyperkinesen und Tics eingegangen. Wir haben auch die Reaktivierung vieler anderer ‹ruhender) primitiver Symptome beobachtet, zum Beispiel Myoklonie, Bulimie, Polydipsie, Satyriasis, zentrale Schmerzempfindungen, zwanghafte Affekte usw. Auf höheren Funktionsebenen kam es zur Wiederkehr und Reaktivierung von kunstvoll ausgearbeiteten, affektiv besetzten moralischen Überzeugungen, Gedankensystemen, Träumen und Erinnerungen, die allesamt infolge der tiefgreifenden Bewegungshemmung und zuweilen auftretenden Apathie im Verlauf der postenzephalitischen Krankheit ‹vergessen›, unterdrückt oder auf andere Weise deaktiviert worden waren.
    Ein erstaunliches Beispiel für jene durch L-Dopa forcierte Erinnerung war der Fall einer dreiundsechzigjährigen Frau, die seit ihrem achtzehnten Lebensjahr an fortgeschrittenem postenzephalitischem Parkinsonismus litt und seit vierundzwanzig Jahren in einem Zustand fast ständiger okulogyrischer ‹Trance› in einer Anstalt untergebracht war. Die Verabreichung von L-Dopa führte zunächst zu einer einschneiden den Besserung ihres Parkinsonismus und zu einem Abklingendes okulogyrischen Trancezustandes, so daß sie fast normal sprechen und sich bewegen konnte. Wenig später kam es (wie bei verschiedenen anderen unserer Patienten) zu psychomotorischer Erregung mit verstärkter Libido. Diese Periode war gekennzeichnet durch Nostalgie, freudige Identifikation mit einem jugendlichen Ich und durch ein unkontrollierbares Aufwallen lange zurückliegender sexueller Erinnerungen und Anspielungen. Die Patientin bat um einen Cassettenrecorder und nahm innerhalb weniger Tage zahllose frivole Lieder und ‹obszöne› Witze und Limericks auf, die sie Mitte bis Ende der zwanziger Jahre auf Parties, in Nachtclubs und Varietés aufgeschnappt oder in ‹Schundheften› gelesen hatte. Der Eindruck dieser Darbietungen wurde noch verstärkt durch wiederholte Anspielungen auf damalige Ereignisse und die Verwendung etlicher aus der Mode gekommener Ausdrücke, Sprechweisen und Verhaltensmuster, die jene vergangenen Jahre und ihre Teenagerzeit wieder lebendig werden ließen. Niemand war darüber erstaunter als die Patientin selbst: ‹Es ist komisch), sagte sie. ‹Ich verstehe das nicht. Seit mehr als vierzig Jahren habe ich nicht an diese Dinge gedacht oder von ihnen gehört.
    ‹Ich hatte keine Ahnung, daß ich das alles noch wußte, aber jetzt geht es mir ständig im Kopf herum.› Ihre wachsende Erregung erforderte eine Reduzierung der L-Dopa-Dosis, und damit ‹vergaß› die Patientin, obwohl sie sich weiterhin gut artikulieren konnte, prompt all diese frühen Erinnerungen und war nie mehr in der Lage, sich auch nur an eine einzige Zeile der Lieder zu erinnern, die sie aufgenommen hatte.
    Bei Anfällen von Migräne und Epilepsie, bei hypnotischen und psychotischen Zuständen und, weniger dramatisch, als Reaktion auf den starken mnemonischen Stimulus gewisser Worte, Geräusche, Szenen und vor allem Gerüche tritt forcierte Erinnerung - gewöhnlich begleitet von einem Gefühl des deja vu und einer (um Hughlings -Jacksons Bezeichnung zu

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