Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
gewesen war und die ihr viel bedeutet hatten.
«Belasten diese Visionen Sie?» fragten wir sie. «Wir könnten Ihnen andere Medikamente geben. »
«Nein», antwortete sie friedlich lächelnd, «ich mag diese Träume - sie führen mich in meine Heimat zurück. » Manchmal sah sie Menschen, gewöhnlich Familienmitglieder oder Nachbarn aus ihrem Heimatdorf; manchmal hörte sie Gespräche oder Lieder, oder sie sah Tänze; mal war sie in einer Kirche, mal auf einem Friedhof; meistens aber sah sie die Ebenen, die Äcker und Reisfelder in der Umgebung ihres Dorfes und die niedrigen, sanften Hügel, die sich bis zum Horizont erstreckten.
Handelte es sich tatsächlich um Schläfenlappen-Anfälle? Mittlerweile waren wir uns nicht mehr so sicher. Den Untersuchungen Hughlings-Jacksons und Penfields zufolge haben die Visionen bei diesen Anfällen einen recht eng umrissenen Inhalt: Es geht dabei um eine bestimmte Szene oder eine bestimmte Musik, die sich ständig und unverändert wiederholt und durch die Reizung eines ganz bestimmten Punktes auf der Hirnrinde ausgelöst wird. Bhagawhandis Träume dagegen liefen nicht nach einem so festgelegten Muster ab, sondern führten ihr ständig wechselnde Panoramen und ineinander übergehende Landschaften vor. Lag vielleicht eine medikamentöse Intoxikation vor? Waren diese Halluzinationen vielleicht eine Folge der hohen Steroid-Dosen, die sie jetzt erhielt? Das war nicht auszuschließen, aber wir konnten diese Dosen nicht reduzieren, denn dann wäre sie in ein Koma gefallen und innerhalb weniger Tage gestorben.
Außerdem ist eine sogenannte «Steroid-Psychose» gekenn zeichnet durch Erregung und Verwirrtheit, während Bhagawhandi immer friedlich, ruhig und bei klarem Verstand war. Handelte es sich bei diesen Visionen vielleicht um Phantasien oder Träume im Freudschen Sinne oder um jene Art von Traum-Verrücktheit (Oneirophrenie), die manchmal im Verlauf einer Schizophrenie auftritt? Auch diese Frage konnten wir nicht mit Gewißheit beantworten, denn wenn hier auch eine Art von Phantasmagorie vorlag, so bestanden die Halluzinationen doch offenbar ausschließlich aus Erinnerungen. Sie traten parallel zum normalen Bewußtsein auf (Hughlings Jackson sprach, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, von einer «Verdoppelung des Bewußtseins»), und sie schienen nicht «überbesetzt» oder von leidenschaftlichen Trieben erfüllt zu sein. Eher erschienen sie wie gewisse Gemälde oder Tondichtungen -es waren manchmal heitere, manchmal traurige Erinnerungen und Rückblicke, Ausflüge in eine glückliche Kindheit.
Diese Träume, diese Visionen wurden mit jedem Tag, mit jeder Woche, häufiger und intensiver. Sie traten jetzt nicht mehr gelegentlich auf, sondern dauerten fast den ganzen Tag. Bhagawhandi machte ein verzücktes Gesicht, als sei sie in Trance. Manchmal waren ihre Augen geschlossen, dann wie der waren sie, ohne daß sie etwas wahrnahm; geöffnet, aber immer lag ein leichtes, geheimnisvolles Lächeln auf Bhagawhandis Gesicht. Wenn man sich ihr näherte oder wenn die Schwestern sie etwas fragten, antwortete sie sofort klar und höflich, aber selbst diejenigen, die nicht an übersinnliche Phänomene glaubten, hatten das Gefühl, daß sie bereits in einer anderen Welt sei und man sie nicht stören sollte. Auch mir ging es nicht anders, und ich zögerte, obwohl ich neugierig war, sie direkt darauf anzusprechen. Nur einmal fragte ich sie: «Bhagawhandi, was geht in Ihnen vor?»
«Ich sterbe», antwortete sie. «Ich gehe nach Hause. Ich kehre dorthin zurück, wo ich hergekommen bin - das ist meine Heimkehr. »
Eine weitere Woche verging. Bhagawhandi reagierte jetzt nicht mehr auf äußere Reize, sondern schien völlig in einer eigenen Welt zu leben, und obwohl ihre Augen geschlossen waren, lag auf ihrem Gesicht noch immer jenes leichte, glückliche Lächeln. «Sie kehrt heim», sagten die Schwestern. «Bald wird sie angekommen sein. » Drei Tage später starb sie. Vielleicht sollte man besser sagen: Sie hatte das Ziel ihrer Reise nach Indien erreicht.
18
Hundenase
Stephen D., zweiundzwanzig Jahre alt, Medizinstudent, Drogenkonsument (Kokain, Psychostimulantien, hauptsächlich Amphetamine), hatte eines Nachts einen lebhaften Traum: Er war ein Hund in einer Welt voller unvorstellbar starker und bedeutsamer Gerüche. («Der glückliche Geruch von Wasser... der tapfere Geruch eines Steins.») Beim Aufwachen stellte er fest, daß sein Traum Wirklichkeit geworden war. «Als ob ich bis dahin
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