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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Terminologie) «paradigmatischen und die «narrative» Form. Und obwohl beide dem sich entwickelnden menschlichen Geist gleichermaßen angeboren sind und in ihm ihren Platz haben, steht das Narrative an erster Stelle und genießt geistige Priorität. Kleine Kinder lieben Geschichten und wollen immer wieder welche hören. Sie können komplexe Zusammenhänge begreifen, sobald man sie ihnen in Form von Geschichten präsentiert, auch wenn ihre Fähigkeit, allgemeine Konzepte und Paradigmata zu verstehen, fast überhaupt nicht entwickelt ist. Dort, wo ein abstrakter Gedanke nichts ausrichten kann, erzeugt diese narrative oder symbolische Kraft ein Gefühl für die Welt- eine konkrete Realität in der Phantasieform eines Symbols oder einer Geschichte. Ein Kind versteht die Bibel, bevor es Euklid versteht. Nicht weil die Bibel einfacher ist (eher das Gegenteil ist der Fall), sondern weil sie eine symbolische und narrative Struktur hat.
    Und wie ihre Großmutter gesagt hatte, war Rebecca in dieser Hinsicht auch mit neunzehn Jahren noch «wie ein Kind». Sie war wie ein Kind, aber kein Kind, sondern eine Erwachsene. (Der Ausdruck «retardiert» bezeichnet jemanden, der ein Kind geblieben ist, der Ausdruck «geistig behindert» dagegen einen behinderten Erwachsenen; beide Ausdrücke, beide Konzepte sind gleichzeitig richtig und falsch.)
    Bei Rebecca - und bei anderen Behinderten, bei denen eine persönliche Entwicklung zugelassen oder unterstützt wird - kann eine starke und fruchtbare Entwicklung der emotionalen, narrativen und symbolischen Kräfte stattfinden und (wie in Rebeccas Fall) zur Entfaltung einer Art natürlicher Poesie oder (wie in Joses Fall) zu einer Art natürlichen künstlerischen Empfindens führen. Die paradigmatischen oder begrifflichen Kräfte dagegen, die von Anfang an erkennbar schwach ausgebildet sind, machen nur sehr langsam und mühsam Fortschritte und sind lediglich zu einer sehr begrenzten, kümmer lichen Entwicklung fähig. Dies war Rebecca vollkommen klar, wie sie mir schon vom ersten Tag an deutlich gezeigt hatte. Damals hatte sie von ihrer Unbeholfenheit gesprochen und davon, daß ihre unkoordinierten Bewegungen durch Musik flüssig und geordnet würden. Und sie hatte mir gezeigt, wie sie selbst durch den Anblick eines Stückes Natur, das von einer organischen, ästhetischen und dramatischen Einheit und Sinnhaftigkeit erfüllt war, zu einer geordneten Ganzheit fand.
    Nach dem Tod ihrer Großmutter äußerte sie sich recht plötzlich deutlich und entschieden. «Ich will keine Arbeits- und Fördergruppe mehr», sagte sie. «Sie helfen mir nicht. Sie helfen mir nicht, mich zusammenzubringen. » Und dann bewies sie wieder einmal jene Fähigkeit, die richtige Metapher zu finden, die ich an ihr so bewunderte und die, trotz ihres niedrigen IQ, so gut entwickelt war. Sie sah auf den Teppich, der in meinem Büro lag, und sagte: «Ich bin eine Art lebendiger Teppich. Ich brauche ein Muster wie das hier, auf dem Teppich. Wenn ich kein Muster habe, falle ich auseinander und löse mich auf. » Bei ihren Worten betrachtete ich den Teppich und dachte an Sherringtons berühmtes Bild: das Gehirn, der Geist als «magischer Webstuhl», der Muster webt, die sich unablässig wandeln, aber immer eine Bedeutung haben. Kann es, so überlegte ich, einen grob gewebten Teppich ohne Muster geben? Kann es ein Muster ohne einen Teppich geben? (Aber das wäre wie ein Lächeln ohne Gesicht.) Rebecca verkörperte gewissermaßen einen «lebendigen» Teppich, und als solcher mußte sie beides haben. Und gerade sie, mit ihrem Mangel an schematischer Struktur (die sozusagen Kette und Schuß, das Gewebe ihres Teppichs war), lief ohne ein Muster (die szenische oder narrative Struktur des Teppichs) Gefahr, sich aufzulösen und zu verlieren.
    «Ich brauche einen Sinn», fuhr sie fort. «Die Gruppen, die kleinen Arbeiten, mit denen ich beschäftigt werde, finde ich sinnlos ... Was mir wirklich gefällt», fügte sie voller Sehnsucht hinzu, «ist das Theater. »
    Wir nahmen Rebecca aus der verhaßten Werkstatt heraus und verschafften ihr einen Platz in einer Theatergruppe. Sie ging vollkommen darin auf- diese Tätigkeit verschaffte ihr ein Zentrum. Sie machte ihre Sache erstaunlich gut: In jeder Rolle wurde sie ein ganzer Mensch und agierte flüssig, mit Ausdruckskraft und aus einem inneren Gleichgewicht heraus. Das Theater und die Theatergruppe waren bald ihr Leben geworden, und wenn man sie heute auf der Bühne sieht, würde man nie

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