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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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nichts wussten.
    »Wir müssen natürlich berücksichtigen, dass die wiedererlangten Erinnerungen nicht immer hundertprozentig zutreffend sind …«, hob sie vorsichtig an.
    »Wie soll ich das verstehen?«
    »Nun ja, wie zahlreiche Studien belegen, verändern sich Erinnerungen mit der Zeit. Ihre Erinnerungen sind eventuell bereits verzerrt und werden im Laufe des Wiedererlangungsprozesses vermutlich noch weiter entstellt – unter Umständen sind sie sogar komplett falsch.«
    »Falsch?«, stieß ich leicht brüskiert hervor. Jede neue Erinnerung hatte mich in dem Gefühl bestärkt, ein halbwegs normaler Mensch zu sein. Und nun wollte Dr. Lewington allen Ernstes behaupten, dass mich meine Erinnerungen, ganz im Gegenteil, womöglich immer weiter in den Wahnsinn trieben?
    »Natürlich. Manche Patienten haben äußerst lebhafte Erinnerungen an Vorfälle, die sie gar nicht miterlebt haben. Sie können ziemlich wütend werden, wenn man ihre Sicht der Dinge in Frage stellt. So gelingt es der Erinnerung auf wundersame Weise immer wieder, unsere Gefühle zu manipulieren!«, jauchzte sie und schloss mit einem Mausklick meine Krankenakte. Unser nächster Termin stand erst in acht Wochen an, und plötzlich wurde mir klar, dass ich dann rechtmäßig geschieden sein würde. Auf dem Keramikkopf waren die verschiedenen Areale des menschlichen Gehirns verzeichnet, die angeblich mit den wichtigsten geistigen Funktionen korrespondierten: »Sorglichkeit«, »Verehrung«, »Liebe«.
    »Rein interessehalber«, sagte ich, als ich aufstand, »gibt es eigentlich eine wissenschaftliche Grundlage für den Spruch ›Zwischen Liebe und Hass liegt nur ein schmaler Grat‹?«
    »Ja, durchaus. Beide Gefühle entstehen in denselben neuronalen Schaltkreisen, im Putamen und in der Insula. Neurologen vom UCL haben kürzlich einen Zusammenhang zwischen Liebes- und Lustempfindungen und verschiedenen Aktivierungsmustern in diesem Teil des Subkortex nachgewiesen.«
    »Das heißt also, es ist tatsächlich wissenschaftlich messbar, wie sehr man jemanden liebt?«
    »Nun ja, es könnte Liebe sein. Ebenso gut aber auch Hass. Die Kollegen haben nur die Gefühlsintensität gemessen.«
    Die Erinnerung an meine Gehirnerschütterung bestärkte mich in meiner Überzeugung, ungerecht behandelt worden zu sein. Jetzt war ich der zu allem entschlossene Verteidiger, der soeben auf den entscheidenden Beweis für die Unschuld des Angeklagten gestoßen war. Ich musste Maddy mit dieser neuen Entwicklung konfrontieren; sie hatte die Märtyrerin gespielt, deren Angst vor ihrem Untersuchungsergebnis mich angeblich kaltgelassen hatte, während am Ende jenes verhängnisvollen Tages nicht sie ernsthaft erkrankt war, sondern ich. Ich fuhr auf schnellstem Weg zu unserem Haus, um ihr von meiner Offenbarung zu berichten. Ich weiß nicht, was ich von ihr erwartete; vielleicht suchte ich lediglich so etwas wie Bestätigung. Doch ich wusste, dass die Kinder in der Schule sein würden, und insgeheim freute ich mich auf einen anständigen Krach. Das ist das Problem, wenn man Single ist: Es ist einfach niemand da, wenn man das geradezu körperliche Bedürfnis nach einem handfesten Streit verspürt. Klar, man könnte in der nächsten Kneipe eine Frau aufreißen und sie auf einen One-Night-Zoff mit nach Hause nehmen, aber im Grunde weiß man, dass einen das nicht befriedigt. Kameradschaft, gegenseitige Anziehung und regelmäßige Auseinandersetzungen – das ist das Salz in der Suppe einer Ehe. In meinen wirren Fantasien räumte sie reumütig ein, dass sie überstürzt gehandelt habe, und flehte mich an, zu ihr zurückzukehren. »Nein, dazu ist es zu spät«, ließ ich sie eiskalt abblitzen. »Das hättest du dir früher überlegen müssen.«
    Ich hatte mich in einen regelrechten Rausch der Empörung hineingesteigert, als ich vierzig Minuten später die Stufen hinaufsprang und so fest auf den Knopf an der Sprechanlage drückte, dass ich Angst hatte, sie kaputt zu machen. Nach einer kurzen Pause ertönte ein Summen.
    »Ich bin’s, Vaughan! Ich muss dich dringend sprechen.«
    Diesmal dauerte die Pause etwas länger, dann schließlich summte der Türöffner, und ich marschierte hinein. Der Hund begrüßte mich begeistert, aber Maddy ließ sich erst einmal nicht blicken, was meiner Erregung einen spürbaren Dämpfer versetzte. Durch die Decke hörte ich, wie sie sich oben im Bad zu schaffen machte, und ich stellte mir vor, wie sie leichtes Make-up auflegte, bevor sie mich empfing. Schließlich

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