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Der Mann, der starb wie ein Lachs

Der Mann, der starb wie ein Lachs

Titel: Der Mann, der starb wie ein Lachs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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Ruderboot, Papa holt das Netz ein. Die Eltern sitzen ruhig beisammen, reden leise miteinander, und er versteht nicht, was sie sagen. Das Netz tropft vor Wasser, die Sonne scheint schräg hindurch, ein blitzendes Glitzern in den Augen. Und er ist so neugierig, möchte so gern wissen.
    Esaias schluckt. Das hier ist wichtig, er versucht das Gefühl festzuhalten. Im Alter von drei Jahren. Kaum älter.
    Esaias hat kein Finnisch verstehen können. Sie hatten es ihm nicht beigebracht. Mama und Papa müssen das irgendwann beschlossen haben.
    »Pojan kansa met puhuma aivan ruottia. Wir reden nur Schwedisch mit Esaias. Wir leben ja in Schweden, und deshalb reden wir Schwedisch, dann hat er es leichter in der Schule.«
    Ungefähr so.
    Was in keiner Weise ungewöhnlich war. In der Zeit muss das in Hunderten, vielleicht in Tausenden Tornedaler Familien so passiert sein, daheim in der Gemeinde wie auch bei den Fortgezogenen. Man wollte eine normale schwedische Familie werden. Und man gehörte zu der ersten Generation im oberen Tornedal, die ein nettes Schwedisch hatte lernen können. Als Kind in den Vierzigern hatte man daheim nur Meänkieli gesprochen und war gezwungen, Schwedisch in der Schule zu lernen. Was nicht immer leicht gewesen war. Jetzt, in den Sechzigern, wollte man den Kindern, die man bekam, nur das Schwedische beibringen. Innerhalb einer Generation geschah ein Sprachaustausch. Man warf alle selbstgewebten Lumpen weg und gab den Kindern gekaufte Kleidung. Es war ja das Beste so.
    Im Hinterkopf gab es Warnungen. Mehrsprachigkeit war schädlich für Kinder. Ein Menschenhirn war nur für eine Sprache auf einmal gebaut. Es ging ganz einfach um die Gedächtniskapazität, stopfte man zu viele Worte hinein, wenn das Kind noch klein war, wurde der Vorrat schnell überfüllt. Das Gehirn unterschied sich nicht von anderen Aufbewahrungsplätzen. Wenn das Gehirn bereits in der Kindheit mit dem Finnischen überlastet worden war, dann hatte es einfach keinen Platz mehr fürs Schwedische. Ein Meänkieli sprechendes Kind, das in der schwedischen Schule anfing, war folglich für alle Zeiten im Nachteil. Man konnte versuchen, ein wenig Schwedisch hineinzupressen, aber wie alle feststellen konnten, blieb es nur schwer haften. Die Kammer hatte keine freien Regale mehr. Das Ergebnis war den Tornedaler Volksschullehrern nur zu vertraut, es wurde Halbsprachigkeit genannt. Ein schrecklicher Zustand, ein Handicap, das das Kind sein Leben lang verfolgen sollte. Da stand der Ärmste mit seinem wortarmen finnischen Dialekt sowie einem unvollständigen Schwedisch, mit zwei halben Sprachen statt einer ganzen. Den Rest seines Lebens hangelte sich der Betreffende wie zwischen zwei wackligen Eisschollen hin und her, immer wieder die Sprache wechselnd bei seinen Bemühungen, sich auszudrücken. Wer das bezweifelte, der brauchte sich nur einmal an einer Kasse in Pajala in eine Schlange zu stellen und zuzuhören, wie die Tornedaler sich miteinander unterhielten. Einer sagte etwas auf Schwedisch, der andere antwortete auf Meänkieli mit zwei eingefügten schwedischen Worten, und ein Dritter konterte mit einem Tornedaler Kraftausdruck. Das war keine Sprache mehr. Das war Rotwelsch. Weder ein waschechter Schwede noch ein reiner Finne könnte dieses Kauderwelsch verstehen.
    Die Eltern hatten nur das Beste für Esaias gewollt. Sie hatten sein kleines Gehirn vor dem finnischen Unkraut schützen wollen, damit das Schwedisch in einen unverdorbenen Acker gesät werden konnte. Die Tornedaler hatten daran geglaubt. Mit der üblichen Untertänigkeit hatte man die Medizin geschluckt und das getan, was die Gelehrten befohlen hatten.
    Noch im Erwachsenenalter war diese Vorstellung in Esaias verankert gewesen. Ein Land, ein Volk und eine Sprache. Bei einer Rundreise durch Indien hatte er zum ersten Mal einen wirklichen Denkanstoß in dieser Richtung bekommen. Esaias stand auf dem Busbahnhof in Bangalore und kam mit einem Straßenjungen ins Gespräch. Der Junge war zehn Jahre alt, sah aber höchstens wie sieben aus, er war klein gewachsen, schmutzig und trug eine zerrissene kurze Hose, und in seinem rabenschwarzen Haar gab es sonderbare rötliche Strähnen, die von langjähriger Unterernährung kündeten. Er war kaum mehr als ein paar Jahre zur Schule gegangen. Sein Vater stammte aus Neu Delhi, seine Mutter aus Maharashtra, sie waren vor zwei Jahren hierher gezogen. Jetzt beherrschte der Junge fließend beide Muttersprachen seiner Eltern, Hindi und Marathi, sowie das

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