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Der Mann, der starb wie ein Lachs

Der Mann, der starb wie ein Lachs

Titel: Der Mann, der starb wie ein Lachs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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dabei nichts gefühlt. Überhaupt nichts.
    Die Gedanken wanderten weiter zur Hausräumung. Da gab es eine ganze Menge, was er nicht wegwerfen mochte. Neben dem Elefanten mit dem Eingeborenenjungen hatte er eine alte Wiege mit der Jahreszahl 1899 gefunden. Wahrscheinlich stammte sie aus Martins Elternhaus. Fast aufgeregt hatte Jan Evert seine Handfläche auf den braunen Holzboden gelegt. Seine eigene Mutter musste darin gelegen haben. Ein kleines niedliches, zappelndes Mädchen. Er spürte, wie es in der Handfläche prickelte, als lebte dort etwas. Das waren die Wurzeln, dachte er. Mamas Wurzeln. Und vielleicht, auf ganz sonderbare Weise, auch seine eigenen. Neben der Jahreszahl war ein Familienname eingeritzt. Aber nicht Herdepalm. Sondern Niemi. War das der Familienname gewesen?
    Die Fotos hatte er auch aufgehoben. Aus der ersten Zeit gab es nur wenige. Auf einigen der Bilder konnte er seine Mutter als Kind wiedererkennen. Sie stand auf einem Tretschlitten, mit Wollpullover und Mütze, und sah aus, als wäre sie ungefähr fünf Jahre alt. Ein anderes Foto hatte einen Text: Pause bei der Heuernte. Da war sie zehn oder elf und hockte mit einer Heugabel in der Hand. Martin stand hinter ihr, mehrere Jahre älter, mit einer Sense in der Hand, die Arbeitsmütze tief in die Stirn gezogen. Alice trug ein stramm gebundenes Kopftuch und sah ängstlich aus. Vor der Kamera? Sie hielt einen Unterarm vor den Brustkorb, als wollte sie sich schützen. Jan Evert fiel auf, dass die anderen Menschen auf dem Foto den gleichen Blick zeigten. Angespannt, wachsam, kurz davor, sich abzuwenden. Ganz unten in der Ecke war einkopiert: Atelje Meyer, Härnösand. Ein fahrender Fotograf, so musste es gewesen sein. Die Utensilien für die Entwicklung im Kofferraum, zufällige Bestellungen konnten überall auftauchen. Ein von Berufs wegen lächelnder Mann, Hut mit Krempe, gewachster Schnurrbart, Stiefel aus Wildleder.
    »Wünschen die Herrschaften eine Fotografie? Bitte schön, hier aufstellen, ein ideales Gruppenbild, um es den Enkelkindern zu zeigen, eine wahre Erinnerung fürs Leben …«
    Das war Schweden. Sie war dem richtigen Schweden begegnet, es war bis hinauf ins Tornedal gedrungen. Ein schwedischer Herrenmensch hatte dort mit seiner Fotoausrüstung gestanden und Schwedisch gesprochen. Das war eine feine Sprache, die lernten die Dorfkinder in der Schule, die Sprache, die man im Va-Ter-Land sprach.
    Das sah er in ihrem Blick. Die Fremdheit.
    Aber heute lebte sie dort unten, im richtigen Schweden. Ihr Tornedaldialekt war seit einem halben Jahrhundert ausgelöscht, sie sprach, kleidete sich und bewegte sich wie eine waschechte Schwedin. Sie hatte ihrem Sohn nicht ein einziges Wort Finnisch beigebracht. Doch, eines. Hoppu. Als er in die Schule kam. Als sein Vater mit dem klapprigen Citroën auf der Garageneinfahrt wartete. Das war das einzige Wort, das überschwappte, das sich aus ihrer abgelegten Kindheit hervorstahl. Ein einziges Wort für ihren Sohn. In Schweden war alles hoppu. Eilig.
    So viele, die weggingen, dachte er. So viele Tornedaler, die sich den Rest ihres Lebens mit allen Kräften anstrengten, um zu genügen. Man wollte anerkannt werden. Nur danach ging das Streben. Nicht unbedingt glänzen, auf das Siegertreppchen steigen und Goldmedaillen bekommen. Nein, nur taugen, wie die anderen sein. Das war das Ziel der ersten Generation von Auswanderern, sie wollten nur ihre Pflicht tun, und deshalb ging es meistens gut aus für sie. Heute konnte man Tornedaler in Verwaltungsräten finden, auf Professorenposten, ja, bis hinauf in die Landesregierung. Bescheidene Menschen, ohne Dramatik und ohne viel Aufhebens zu machen. Aber tauglich. Fleißig.
    Und die nächste Generation? Zu der er selbst gehörte. Die das Finnisch verloren hatten, die nie am Fluss gelebt hatten, nie in den Moltebeersümpfen herumgestapft waren. Wer sind wir?, dachte er. Die wir auf Bürgersteigen herumgelaufen sind und südschwedische Dialekte gelernt haben. Sind wir richtige Schweden geworden? Sind wir frei, oder gibt es immer noch Leerräume in uns? Den Lachsspeer?
    Jan Evert Herdepalm schloss die Augen in der Dunkelheit. Und plötzlich war er zurück in Afrika. Auf einer Isomatte unter dem Moskitonetz am Lake Iteshi-Teshi. Das entfernte Brausen des Kafueflusses. Das Platschen von Krokodilen und fressenden Flusspferden. Leises Gemurmel vom Lagerfeuer, an dem die Jungen aus dem Dorf Wache hielten. Es raschelte im Palmendach, in dem unbekannte afrikanische Nachttiere

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