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Der Mann, der starb wie ein Lachs

Der Mann, der starb wie ein Lachs

Titel: Der Mann, der starb wie ein Lachs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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Tamil des neuen Teilstaats, in dem sie jetzt lebten, außerdem konnte er richtig gut Englisch. Esaias war von diesem ungewaschenen kleinen Sprachgenie fasziniert, hatte ihm einige Rupien geschenkt und sich den Rest des Tages auf unerklärliche Weise gut gelaunt gefühlt. Vier Sprachen und nicht das geringste Zeichen für eine überfüllte Harddisk.
    Je weiter Esaias sich in der Welt umschaute, umso häufiger stellte er fest, dass Mehrsprachigkeit eher das Normale war. Die Welt war voll mit Indianersprachen, Bantusprachen, Ortsdialekten und Överkalixsprache, und dann noch dieses Spanisch oder Arabisch oder Kantonesisch oder all die Kreolvarianten. Die Leute heirateten kreuz und quer und vermischten sich, die Kinder sogen die Sprachen wie Löschpapier auf. So lief es die ganze Zeit. Einsprachige Nationen erhielt man in der Regel eigentlich nur, wenn man eine leere Insel wie Island kolonisierte.
    Es war die Einsprachigkeit, die abgrenzte. Als würde die Umwelt nur in einer einzigen Farbe gesehen. Ein zweisprachiger Tornedaler hatte einen doppelt so großen Wortschatz wie ein einsprachiger Schwede und damit doppelt so viele Möglichkeiten, sich auszudrücken, sowohl in der Schlange an der Kasse als auch in seinen eigenen Gedanken. Und trotzdem fühlte man sich behindert.
    Seine Mutter und sein Vater hatten Esaias niemals Finnisch gelehrt. Aber sie hatten nicht verhindern können, dass er zuhörte. Und so musste es gelaufen sein. Ein kleiner Junge, der auf dem Küchenfußboden saß und mit Bauklötzen spielte. Mama und Papa, die am Küchentisch Kaffee tranken. Ein Blick durch das Fenster auf den Regen draußen, ein Wort, das sich wiederholte, vielleicht sattaa. Oder im Winter, wenn es schneite, lunta. Keine Übersetzung oder Erklärung, nur das Wetter draußen. Und Worte, die im Körper zurückblieben, ohne dass man daran dachte. Der Nachbar, der grüßte und zu komppi einlud. Draußen an der Leine stand koira und bellte. Varo!, wenn man über die Straße wollte. Kuule und niinkö und varmasti am Telefon. Man saß da und lauschte, und es blieb haften. Es klumpte sich zu einem größeren Knäuel zusammen und wuchs in aller Stille, ganz unterirdisch. Und immer häufiger, wenn Mama Schwedisch sprach, war zu merken, dass sie eigentlich auf Meänkieli dachte.
    »Komm rein, essen!«, rief sie, aber man sah, dass tule sisäle syöhmään in ihrem Kopf steckte.
    »Sei leise!«, sagte sie, dachte aber älä värkkää!
    Vielleicht war es in allen Familien auf der ganzen Welt so, überlegte der Junge. Die Eltern hatten eine Sprache und die Kinder eine andere. Doch in Esaias wuchs die Erwachsenensprache genauso, bekam Äste und Blätter, wurde langsam Teil seines Körpers. Und eines Abends, als Mama und Papa Geheimnisse besprechen wollten, ging er hin und lauschte. Sie wollten nicht, dass er es verstand, also sprachen sie die ganze Zeit in ihrer geheimen Erwachsenensprache, und sie fingen sogar an, sich darüber lustig zu machen:
    »Nyt kakara ei ymmärä mithään! Jetzt versteht der Junge nichts!«
    »Miehän ymmärän!«, antwortete er darauf. »Natürlich verstehe ich euch.«
    Sie hatten ihn sprachlos angestarrt. Seinen kleinen Jungsmund, als hätten sie nicht richtig gehört. Sie zeigten keinerlei Freude. Stattdessen warfen sie sich gegenseitig vor, ihm Finnisch beigebracht zu haben. Das ist deine Schuld. Nein, deine. Kein Stolz, kein Lob. Esaias legte sich auf den Küchenfußboden, streckte sich auf den gefirnissten Brettern der Länge nach aus und hielt sich die Ohren zu. In hohem Bogen spuckte er schäumende Speichelblasen aus. Es gab ein Geräusch im Hintergrund, einen Schneepflug, der sich scheppernd auf der Landstraße näherte. Esaias ließ ihn vorbeifahren, bevor er schweigend davonrobbte. Der Speichel blieb liegen. Immer wieder würde irgendein Mistkerl hineintrampeln.
     

28
     
    Auf den ersten Blick enthielt Uddes Fotoalbum nur unschuldige Urlaubsbilder. Therese blätterte es aufmerksam durch. Touristen lagen in Liegestühlen mit einem kokosmilchtrüben Getränk in Reichweite. Hässliche Stoffhüte, dunkle Sonnenbrillen mit Nasenschutz, pellende Haut. Im Hintergrund ein wimmelnder Ameisenhaufen badender Menschen, das Meer, das dunkelblau, fast schwarz glitzerte. Funkelnd weiße Hotelfassaden auf dem Land, Balkons und Treppenfassaden, gezackte Hochhaussilhouetten vor einem von Abgasen dunstigen Himmel.
    Europäer im Urlaub. Breitbeinig dasitzende Männer mittleren Alters in Boxershorts mit hervorquellendem Bauchfett

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