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Der Mann, der starb wie ein Lachs

Der Mann, der starb wie ein Lachs

Titel: Der Mann, der starb wie ein Lachs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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Aufopferungen. Doch der weise Allmächtige hat unser Schicksal beschlossen, es muss mit Geduld angenommen werden – und mit Demut.«
    Die Rede wird bezeugt von Döbelns Adjutant Gustaf Adolf Montgomery.
    »Aus allen Augen«, beschrieb er später, »flossen Tränen, Zuschauer wie Teilnehmer waren im Innersten gerührt.«
    Ja, den finnischen Soldaten wurden viele warme Worte zuteil. Über die finnische Sprache dagegen wurde nichts gesagt. Auch nicht über die Tornedaler dort oben im Norden, die in zwei Völker gespalten wurden. Das sollte später kommen, viel später. Es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis das zu einem Problem wurde.
    In den Jahren, die dem Friedensschluss folgten, blieb zunächst fast alles beim Alten. Die Pfarrer auf der schwedischen Seite der Grenze behielten die Namen aller Mitbürger in ihren Kirchenbüchern, nur dass die Bewohner auf der anderen Flussseite nun einen kleinen Zusatz bekamen. Der gleiche Nachname, die gleiche Familie wie zuvor. Aber jetzt die Notiz »russische Untertanen«.
    Alles steckt noch in den Kinderschuhen. Zu gegebener Zeit wird es Ernst werden. Ein roter Kreidestrich, ein erstes, leichtes Bluten entlang dem brausenden Fluss.
     

33
     
    Sie hatte unbegreiflich viele Schuhe. Das war Esaias' erster Gedanke, als er in den Flur kam. Ein Schuhregal mit drei Etagen, und dennoch fanden nicht alle Platz. Schuhe für die Arbeit, fürs Fest, für den Sport, für Spaziergänge, Tanzabende oder Segeltouren. Alles in mehreren Ausgaben, spezielle Sportschuhe fürs Joggen, für Aerobic oder Unihockey.
    Schuhe statt Blumentöpfe.
    Die Stadt, dachte er. So ist das hier.
    Therese gab jede Menge Höflichkeitsfloskeln von sich, schien überdreht zu sein. Esaias stellte seine Schultertasche auf den Boden und riss dabei den Flughafenaufkleber ab.
    »Komm rein, komm rein, da kümmere ich mich schon drum  …«
    Sie schnappte sich den Aufkleber und warf ihn unter den Spültisch, zögerte, ob er nun zu Plastik oder Papier gehörte, er landete dazwischen. Dann stellte sie das kalte Wasser an, ließ es lange laufen, während sie die Kaffeemaschine vorbereitete. Er stellte sich hinter sie, ganz dicht. Sie wandte sich mit einem Ruck um, ein Reflex, die Augen feucht.
    »Was tust du?«, fragte sie.
    Er ließ die Arme hängen, verlagerte nur sein Körpergewicht, so dass seine Nase ihr Ohr berührte. Sie standen so nah beieinander, wie man nur konnte, ohne einander zu berühren. Ihr Haar duftete irgendwie nach Laub. Dann streichelte er vorsichtig eine Locke, mit der Außenseite seiner Nasenspitze. Keiner von beiden wagte zu atmen.
    »Du bist zu früh abgereist«, sagte er. »Wir waren noch nicht fertig …«
    Ihre Wange, sie hatte ein kleines Muttermal. Winzig feine Daunen, fast unsichtbar. Er öffnete die Lippen, wollte sie so gern schmecken. Sie mit der Zunge spüren. Mit der Zungenspitze.
    Sie sank zu Boden. Zog ihn mit sich. Alles wurde rot, sie waren beide so ängstlich. Die Lippen begegneten sich. Zähne, Fleisch. Rentier und Luchs. Er atmete an ihrem Hals, über die empfindliche, erschaudernde Haut in der Nackengrube. Sie dachte an die Kette, die sie anprobiert hatte, die Bewegung der schweren Glieder auf der Haut. Das ist vorausbestimmt, das spürte sie. Das wird ein Kind.
    Jetzt legen sie sich auf den Küchenboden. Haut sucht Haut, wird feucht. Der Wasserhahn läuft. Das gibt eine Überschwemmung, denkt er. Kengis Wasserfall, voi hiivattu hiivattu, was für eine Schneeschmelze!
     
    An diesem Abend verzichtete sie auf das Krafttraining. Sie setzten sich auf den Balkon, während die Sonne im Westen rotviolett unterging. Ein Tiefdruckgebiet zog heran. Ein zerfasertes Gefühl über Stockholm, wie ein Auflodern. Sie tranken ihren Wein aus beschlagenen Gläsern. Er holte ein Holzbrett hervor und zog ein kaltes, gräuliches Fleischstück heraus, von dem er hauchdünne Scheiben abschnitt. Dann reichte er ihr eine Scheibe mit der Messerspitze, sie öffnete zögernd die Lippen. Nahm es auf. Sanftheit. Eine Spur gesalzen. Es schmeckte nach Natur, nach Wald.
    »Kann ich hier schlafen?«, fragte er.
    Sie zögerte.
    »Ich weiß nicht.«
    »Aber ich stehe doch nicht mehr unter Verdacht?«
    Sie fühlte etwas in der Tasche. Eine Zigarrenbinde. Glut.
    »Wer bist du eigentlich?«, flüsterte sie.
    »Wie meinst du das?«
    »Ich habe das Gefühl, als hätte ich dich immer schon gekannt. Als wüsste ich, wer du bist.«
    »Rakhaus«, sagte er zögernd.
    Sie holte tief Atem. Versuchte, das Wort in den Mund zu

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