Der Mann, der wirklich liebte
das Liebste, und wir Menschen können darin keinen Sinn erkennen.«
Röhrdanz hob den Kopf. »Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wovon ich rede, Mann? Sie haben doch keine Frau und keine Kinder!«
»Nein, das stimmt, das Zölibat gebietet mir …« »Herr Pfarrer, ich bin so verzweifelt!«, unterbrach Röhrdanz ihn, der von Panik erfasst wurde. »Was soll denn aus den kleinen Würmern werden, die da nebenan schlafen? Womit haben die das nur verdient?«
»Ich weiß, wie schwer es Ihnen jetzt fällt, über den Rand des Gefäßes zu schauen, das Gott vor Ihnen ausgeschüttet hat. Auch Hiob hatte alles verloren, was ihm lieb und teuer war, seine Frau, seine Kinder. Er hatte eitrige Geschwüre am ganzen Körper und kratzte sich mit einer Scherbe!«
»Ich bin aber nicht Hiob! Ich bin ein ganz normaler Mann, der einfach nur leben will!«
»Das wollte Hiob auch. Sein Hab und Gut war Flammen zum Opfer gefallen, seine Familie der Pest, und doch hat er noch ein Fünkchen Gottvertrauen gehabt, auf das er bauen konnte. Das ihm Kraft gab, nicht am Leben zu verzweifeln …«
»Hiob soll zum Teufel gehen! Ich! Ich verzweifle am Leben!« Röhrdanz krümmte sich auf seinem Stuhl.
»Deswegen bin ich gekommen, Herr Röhrdanz. Weil ich Ihnen Beistand leisten will. Als Pfarrer Ihrer Gemeinde. Sie brauchen Rat. Sie brauchen einen Freund. Sie brauchen Gottes Hilfe.«
»Was soll ich tun, Herr Pfarrer? Ich kann doch nicht die Geräte abstellen lassen! Sie lebt doch noch! Meine geliebte Angela … sie lebt doch noch! Erst hieß es, sie stirbt
von selbst - und jetzt sollen auf einmal die Geräte abgestellt werden?« Röhrdanz wurde von einer neuen Panikwelle erfasst und bekam kaum noch Luft.
»Genau darüber möchte ich mit Ihnen reden. Der Oberarzt hat mich gebeten, von Mann zu Mann mit Ihnen zu sprechen.«
Röhrdanz hob sein verweintes Gesicht und starrte den Pfarrer an. »Von Mann zu Mann?«
»Manchmal muss ein Mann Dinge tun, die keiner erklären kann. - Sehen Sie, lieber Herr Röhrdanz, Ihre Frau hat keine Chance. So hat es mir der Oberarzt erklärt.«
»Das glaube ich nicht! Sie hört mich! Sie weint, wenn ich ihr von den Kindern erzähle!«
»Ihr Zustand wird sich niemals bessern.«
»Sie kriegt ein Baby! Das war doch Gottes Wille! Er kann doch jetzt nicht zerstören, was er uns geschenkt hat!« Röhrdanz schob brüsk seine Teetasse beiseite und schüttelte heftig den Kopf: »Wir haben das gar nicht bestellt, verstehen Sie, wir haben … Wir wollten gar nicht … Aber es ist doch passiert. Und da haben wir gedacht, wenn Gott es will, dann wollen wir es auch …« Er stammelte wie ein Kind, und ihm lief die Nase. Röhrdanz war am Ende seiner Kräfte.
»Was Gott kann oder will, liegt nicht in unserem Ermessen. Hier. Nehmen Sie.« Diskret ging ein Taschentuch über den Tisch.
Röhrdanz schnäuzte sich geräuschvoll, dann legte er seinen Kopf auf die Tischplatte.
»Was soll ich tun, Herr Pfarrer? Ich will sie doch nicht leiden lassen?!«
»Sehen Sie dem Tod ins Auge, denn der Tod ist nicht unser Feind.«
Röhrdanz blickte auf. Seine Haut war wächsern, tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben.
»Wir alle müssen sterben. Wir alle werden zu Gott gehen. Für manche von uns ist es eine Erlösung.« Der Pfarrer tätschelte Röhrdanz’ eiskalte Hand, die wie ein lebloses Etwas auf der Tischplatte lag: »Erlösen Sie Ihre Frau. Auch das ist Liebe.«
»Ich soll sie … erlösen? Aber ist das denn mein Recht? Ich dachte, nur Gott darf ein Leben auslöschen?«
Der Pfarrer nickte stumm. »Der Oberarzt braucht Ihre Unterschrift. Rein rechtlich gesehen. Sonst kann er nichts machen.«
»Machen?«
»Die Geräte abstellen.«
»Ich kann das nicht, Herr Pfarrer. Ich bin nicht Gott. Ich bin nur der kleine Röhrdanz.«
»Deshalb bin ich gekommen. Um Ihnen zu helfen. Wir beide können das zusammen schaffen.«
»Aber dürfen wir das? Dürfen Sie das? Nur weil Sie Pfarrer sind? Ein Leben auslöschen? Ich meine, ihr seid doch so gegen Abtreibung, und jetzt wollt ihr genau das! Und die Mutter gleich mit erledigen!«
Der Pfarrer zuckte unsicher mit den Schultern.
»Und wenn nun doch ein Fünkchen Hoffnung besteht …?«
»Der Doktor sagt Nein.«
»Und was sagt Gott?«
Der Pfarrer ging wieder mit großen Schritten in der
Küche auf und ab. Zwei Schritte bis zur Wand, zwei Schritte bis zum Fenster. Der spätherbstliche Regen prasselte an die Fensterscheiben.
Die Kürbisgesichter, die Angela noch gebastelt hatte, lachten ihn
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