Der Mann, der wirklich liebte
diesem Zustand geboren haben?«
Angela blinzelte. Einmal.
»Ja«, sagte Röhrdanz schlicht. »Sie hat gerade Ja gesagt.«
Der Arzt griff sich an den Kopf. »Das kann doch nicht sein, das gibt es doch gar nicht. Ich meine, der Kleine ist ja völlig gesund, das ist ja sensationell …«
»Für Sie vielleicht«, murmelte Röhrdanz. »Wir wären gern durch etwas anderes berühmt geworden.«
»Oh. Entschuldigung.« Dr. Teubner gab Röhrdanz verlegen die Hand. »Ich wünsche Ihnen - und Ihrer Frau natürlich - alles Gute …«
Dann machte er auf dem Absatz kehrt und lief wieder in seine Klinik.
Röhrdanz schob den Rollstuhl weiter.
Die Pfleger, die am Wagen lehnten, sahen sie kommen und traten ihre Zigaretten aus.
W ieder zurück in Leverkusen, musste Röhrdanz bei seiner Frau harte Aufbauarbeit leisten. Unablässig liefen ihr die Tränen übers Gesicht, und mit der Buchstabentafel wollte sie auch nicht mehr arbeiten. Außerdem bewegte sie nichts mehr - nicht einmal die Fingerkuppe des kleinen Fingers ihrer linken Hand. Dabei hatte sie vor Kurzem mit dem kleinen Finger eine Schnur berühren können, die dann einen Klingelton auslöste. Das war ihr Hilferuf gewesen. Dann musste ihr schnell Schleim abgesaugt werden, damit sie nicht erstickte. Manchmal war auch ein Insekt in ihren Mund gekrabbelt,
oder sie hielt ihre Liegeposition einfach nicht mehr aus.
Es war aber auch vorgekommen, dass sie aus Versehen geklingelt hatte. Sie konnte den kleinen linken Finger noch immer nicht kontrolliert bewegen.
Dann hatten die Schwestern mit ihr geschimpft.
Jetzt klingelte Angela nicht mehr. Sie schien sich aufgegeben zu haben.
Professor Leyen beobachtete ihren Zustand mit Sorge.
»Vielleicht war der Besuch bei ihrem Baby doch zuviel für sie.«
»Nein«, Röhrdanz schüttelte hartnäckig den Kopf, »sie musste den Kleinen sehen. Und sie soll auch ihre anderen Kinder sehen. Glauben Sie mir: Jede Mutter entwickelt Löwenkräfte, wenn sie ihre Kinder bei sich haben will.«
Bisher hatte Professor Leyen es nicht erlaubt, die vierjährige Denise und den einjährigen Philip mit in die Klinik zu bringen. Aber jetzt war er mit seinem Latein am Ende.
»Herr Röhrdanz, Sie haben bis jetzt immer den richtigen Riecher gehabt. Also bringen Sie die Kinder in Gottes Namen am nächsten Wochenende mit.«
Denise war ganztags im Kindergarten untergekommen, Philip hatte Röhrdanz schweren Herzens bei Helga einquartiert. Oliver half ihm im Haushalt, sodass er nach wie vor seinem Job nachgehen und sich wenigstens abends um Denise kümmern konnte.
Bald würde das Baby nach Hause kommen. Dann
würde er nachts aufstehen und ihm die Flasche geben, es wickeln, baden und mit dem Kinderwagen ausfahren müssen. Er würde den kleinen Schreihals durch die Wohnung tragen, streicheln, beruhigen, ihm Nestwärme geben. So wie Angela es mit Denise und Philip gemacht hatte.
Er wusste nur nicht, wie er das schaffen sollte. Aber er würde es tun. Er würde Angela jeden Tag besuchen und ihr berichten, wie gut die Kinder sich entwickelten.
Keine Medizin der Welt würde Angela ins Leben zurückholen, das hatte er inzwischen begriffen.
Nur seine Liebe. Und die Kinder.
Glaube, Hoffnung, Liebe.
Das waren auch die Worte des Pfarrers auf ihrer Hochzeit gewesen. Und jetzt begriff er sie.
D ie Wochen vergingen, inzwischen war es Mai geworden, und am Wochenende war es dann soweit. Es war Angelas dreißigster Geburtstag.
Röhrdanz war sich nicht sicher, ob Angela das wusste oder ob es besser wäre, ihr das gnädig zu verschweigen. Angela hatte keinen Fernseher und kein Radio, damit sie nicht merkte, wie lange sie schon am Locked-in-Syndrom litt.
Oliver und Christian trugen die Kleinen durch den Krankenhausflur. »Psst! Ganz leise sein! Wir wollen die Mami überraschen!«
Röhrdanz hatte seiner Frau nicht angekündigt, dass er die Kinder mitbringen würde. Vielleicht wollte er Angela vorher nicht unnötig aufregen, er wusste es selbst
nicht so genau. Vielleicht wollte er sich auch bis zur letzten Sekunde die Option offenhalten, es möglicherweise doch nicht zu tun.
Wie würde es auf die Kinder wirken, zum ersten Mal hier im Krankenhaus, auf der Neurologischen Station zu sein? Zum ersten Mal zu begreifen, wie ihre Mutter ihr Dasein fristete? Wie würde Angela auf die Kinder reagieren? Wie konnte sie überhaupt reagieren?
Ganz langsam öffnete Röhrdanz die Tür, nur einen winzigen Spalt. Sofort sah er, dass Angela weinte. Sie weinte immer, wenn er kam
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