Der Mann, der wirklich liebte
oder ging.
Dieses Weinen war für sie nicht mehr zu kontrollieren, sie weinte, wie andere »Hallo« oder »Tschüs« sagen. Auf ihre Tränen konnte sie sich verlassen.
Röhrdanz stand vor ihrem Bett, gab ihr einen Kuss und sagte zärtlich:
»Überraschung! Rate mal, wen ich mitgebracht habe? Ich glaube, da will jemand seiner Mami Hallo sagen!«
Angela weinte. Etwas anderes konnte sie nicht tun. Ob sie wusste, welcher Tag heute war?
Röhrdanz holte zuerst Denise herein, hielt sie seiner Frau über das Gesicht.
»Gib der Mama ein Küsschen, Denise!«
Die Vierjährige wollte ihre lange vermisste Mama stürmisch umarmen und küssen, und Röhrdanz musste sie bändigen: »Vorsicht, Süße. Tu der Mami nicht weh!«
»Wann kommt die Mama nach Hause?«, fragte die Kleine ratlos.
»Bald, mein Schatz. Sie muss erst gesund werden.«
Denise kletterte aufs Bett, genau wie an Weihnachten,
als Angela für ein paar Stunden zu Hause gewesen war. Unablässig streichelte sie mit ihren kleinen Händchen über das unbewegliche Gesicht ihrer Mama und plauderte mit ihrem hellen Stimmchen drauflos.
»Nicht weinen, Mami, du wachst ja wieder auf, wenn du groß bist …« Die Kleine benutzte das Vokabular, mit dem sie immer wieder getröstet worden war.
Röhrdanz musste schlucken. Er wandte sich brüsk ab, um Philip zu holen.
Der Kleine verstand nicht, was um ihn herum vorging, streichelte aber artig auf seiner Mama herum, gab feuchte Küsschen und wollte dann auf seinen dünnen Beinchen im Zimmer herumtorkeln. Als er auf seinen Windelpopo fiel, hob Röhrdanz ihn geflissentlich wieder auf, fast so, als wollte er den Vorführeffekt nicht vermasseln.
»Er kann schon laufen«, sagte Röhrdanz schlicht. »Deine Mutter sprintet immer hinterher … Aber es tut ihr gut, so auf Trab gehalten zu werden. Dann denkt sie nicht so viel an Gerd … Na ja, und Dagmar kümmert sich auch sehr lieb um unseren kleinen Mann, nicht wahr, Philip?«, sagte er.
Angela starrte wie gewohnt zur Decke, ihre Tränenflut wollte gar nicht mehr versiegen.
Die Kleinen patschten auf ihr herum.
»Und hier sind unsere Großen, Angela. Kommt rein, Jungs.« Mit fahrigen Bewegungen schob er einen zweiten Stuhl ans Bett, wobei er sich gleichzeitig bemühte, die Kleinen in Schach zu halten. Philip durfte auf keinen Fall an irgendeinem Kabel ziehen oder einen Schlauch
herausreißen. Denise wollte die Instrumente und Geräte, an die ihre Mutter angeschlossen war, ebenfalls mit kindlicher Neugier untersuchen, und Röhrdanz musste sie mit sanfter Gewalt davon abhalten.
»Herzlichen Glückwunsch übrigens«, meinte Christian verlegen. »Heute ist dein dreißigster Geburtstag!«
»So, jetzt lassen wir die Mama wieder ein bisschen ausruhen«, ordnete Röhrdanz hastig an. Er sammelte seine Kinder ein, klopfte hier eine Hose ab und zog dort einen Anorak an: »Sagt Mami auf Wiedersehen.«
»Tschüs, Mami«, riefen die Kinder. Oliver musste Denise mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer tragen, weil sie trotzte und wild mit den Beinen strampelte. Der kleine Philip winkte brav, wie man es ihm aufgetragen hatte, und lutschte, sich selbst tröstend, am Daumen.
Christian wischte sich verlegen die Augen. Angelas Anblick war einfach zu viel für den jungen Mann. Er konnte und wollte sich nicht vorstellen, was es für Angela bedeutete, in ihrem eigenen Körper eingeschlossen zu sein. Er dachte an seinen bisher längsten Flug nach Mexiko, wo er in der vorletzten Reihe eng eingezwängt zwischen anderen Passagieren über zwölf Stunden hatte ausharren müssen. Er hatte sich entsetzlich gefühlt und furchtbare Platzangst bekommen. Die Enge und Abhängigkeit vom Flugpersonal hatten ihn richtig aggressiv gemacht. Obwohl er gelesen, gegessen, getrunken und einen Film gesehen hatte, war er heilfroh gewesen, nach der Landung des Flugzeugs endlich aussteigen zu dürfen.
Aber das waren nur zwölf Stunden gewesen!
Angela befand sich seit Monaten in dieser Situation!
»Mach’s gut, mein Schatz«, flüsterte Röhrdanz zärtlich. »Ich bring die Bagage jetzt nach Hause und schau später wieder vorbei.«
Angela konnte nicht rufen: »Bleibt doch noch!« oder »Zieh dem Kleinen die Kapuze über, es regnet!« oder »Ich liebe euch alle!« Sie spürte nur den kalten Windhauch, als sich hinter ihrer Familie die Türe schloss.
26
»Mein lieber Herr Röhrdanz, wir müssen Ihre Frau nun leider verlegen. Ein gutes Jahr ist sie nun bei uns … Hier in der Klinik haben wir das Budget längst überzogen«,
Weitere Kostenlose Bücher