Der Mann, der zweimal starb Kommissar Morry
Seiten abschirmten. Schroff hielten sie die Neugierigen in respektvollem Abstand. Kopfschüttelnd ging Stanley Calvin auf das Haus zu. Vor der Tür kam ihm die Aufwartefrau entgegen. Die alte Dame befand sich in höchster Aufregung. Auf ihrem welken Gesicht brannten hektische rote Flecken.
„Was ist denn?“ fragte Stanley Calvin in banger Ahnung.
„Mein Gott“, seufzte die verhärmte Frau. „Als ich heute morgen ins Haus kam, entdeckte ich einen Toten in der Halle, Mr. Calvin . . .“
„Einen Toten?“
„Ja, Mr. Calvin. Mir war der Mann völlig unbekannt. Erst vorhin erfuhr ich von der Mordkommission, daß es sich bei dem Toten um einen Beamten von Scotland Yard handelt. Hilfsinspektor Kirk heißt der Mann.“
Stanley Calvin trat langsam in die Halle ein. Es war dämmrig in dem weiten Raum. Man hatte noch nicht geheizt. Kalt und modrig wehte ihm die eingeschlossene Luft entgegen. Er machte ein paar zögernde Schritte. Er sah fünf, sechs Beamte um einen leblosen Körper herumstehen. Sie wandten ihre Gesichter in seine Pachtung und blickten ihn forschend an. Jetzt erst entdeckte Stanley Calvin den Toten. Er lag noch immer an der gleichen Stelle, wo man ihn gefunden hatte. Sein Anblick war furchterregend. Das blutleere Gesicht hatte keinen menschlichen Ausdruck mehr. Am gräßlichsten aber war der Henkerstrick, der in einer kurzen Schlinge um den Hals des Ermordeten lief.
„Sie sind Mr. Calvin, nicht wahr?“
Stanley Calvin blickte überrascht auf den jugendlichen Herrn, dessen gebräuntes Gesicht ihn an einen berühmten Sportsmann erinnerte. „Wer sind Sie?“ fragte er gedehnt.
„Kommissar Morry.“
Stanley Calvin machte eine höfliche Verbeugung. Der Name war ihm nicht unbekannt. Er hatte ihn schon oft in den Zeitungen gelesen.
„Verreisen Sie öfter, Mr. Calvin?“ fragte der Kommissar forschend.
„No, Sir! Eigentlich nicht. Es ist seit acht Wochen das erstemal, daß ich eine Nacht außer Haus war. In Zukunft allerdings wird es öfter passieren. Die Erbschaftsangelegenheiten . . .“
„Wo ist Ihr Vetter?“ fragte Morry rasch.
„Mein Vetter? Ist er denn nicht da?“
„Nein. Die Aufwartefrau führte uns in sein Zimmer. Das Bett war unberührt.“
„Seltsam“, sagte Stanley Calvin zögernd. „Es kommt nur selten vor, daß Reginald York eine ganze Nacht ausbleibt. Er kommt zwar meist erst in den Morgenstunden zurück, aber um diese Zeit war er noch immer zu Hause.“
Der Kommissar schien irgendeine bestimmte Spur zu verfolgen. Er kam immer wieder auf Reginald York zurück.
„Ich sehe die Sache folgendermaßen an, Mr. Calvin“, erklärte er schließlich „Hilfsinspektor Kirk wußte oder ahnte, was hier gespielt wird. Er verfolgte den Einbrecher in das Haus und überraschte ihn hier an dieser Stelle. Er zog seine Pistole. Wir fanden die Waffe unmittelbar neben seinem Körper. Leider war er nicht schnell genug. Der andere handelte rascher. Wenn nicht alles täuscht, ist es der gleiche Mörder, der schon Ihren Vater auf so gräßliche Art ums Leben brachte.“
„Sie meinen also Joseph Hattan?“
„Ja, ich meine Joseph Hattan. Wir fanden am Tatort seine Fingerabdrücke.“
Stanley Calvin blickte stumm auf die Beamten, die noch immer ernst und geschäftig ihrer Arbeit nachgingen. Er fühlte sich auf einmal unglücklich und fremd in dem altertümlichen Haus. Am liebsten wäre er weggerannt. Weit weg.
„Man könnte fast annehmen“, sagte Kommissar Morry in diesem Moment, „daß Joseph Hattan in diesem Haus Stammgast werden will. Was zieht ihn nur immer wieder hierher? Entweder hat er hier einen Freund, den er um Hilfe bitten möchte, oder einen Feind, den er vernichten will.“
Stanley Calvin hätte etwas sagen können, aber er zog es vor zu schweigen. Er wollte seinen Vetter nicht unnötig bloßstellen. Er hatte nicht die Absicht, den leichtfertigen Burschen an die Polizei auszuliefern. „Ich kann Ihnen nichts sagen“, murmelte er halblaut. „Ich weiß nichts. Ich bin eben erst zurückgekehrt.“
Kommissar Morry ließ es dabei bewenden. Er wandte sich ab und ging zu den ändern hinüber. Eine halbe Stunde etwa machten sich die Beamten noch in der Halle zu schaffen, dann wurde der tote Hilfsinspektor weggeschafft und in einen schwarzen Kastenwagen verladen. Die Detektive räumten das Feld. Sie ließen Stanley Calvin allein in dem düsteren Haus zurück. Der Vormittag verging. Die bleiche Herbstsonne wanderte über den Green Park und sank immer weiter nach Westen. Stanley
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