Der Mann, der zweimal starb Kommissar Morry
Calvin wanderte ruhelos durch alle Räume. Er wartete ungeduldig auf die Rückkehr Reginald Yorks. Aber er wartete vergeblich. Er hörte kein Geräusch in diesem schweigsamen Haus. Die Aufwartefrau war längst gegangen. Kein Mensch bewegte sich zwischen den kahlen Wänden. Bis zum Abend blieb Stanley Calvin vor dem kalten Kamin sitzen. Dann ertrug er die Einsamkeit nicht länger. Er zog seinen Mantel an, nahm seinen Hut von der Garderobe und verließ das Haus. Er schloß sorgfältig ab und verrammelte die Terrassentür, durch die der Mörder in die Villa eingestiegen war. Dann ging er zur Green Park Station und fuhr mit dem Bus nach Hoxton. Am Wenlock Basin stieg er aus. Es war inzwischen längst dunkel geworden. Das berüchtigte Viertel hinter dem Canal lockte in schäbigem Glanz. Verkommene Kneipen, finstere Mauerecken, dunkle Winkel säumten den Weg. Da und dort standen Liebespärchen herum. Vor den Kneipen lümmelten Eckensteher und Schlepper.
Stanley Calvin griff zerstreut in die Tasche. Seit ein paar Wochen trug er immer eine Waffe bei sich. Er hatte sie auch jetzt dabei. Es war ein handlicher Browning vom Kaliber siebenfünfundsechzig.
„Suchen Sie eine Dame, mein Herr?“ raunte es an seiner Seite. „Wünschen Sie Gesellschaft? Sehen Sie gern intime Tänze?“
Stanley Calvin schritt rascher aus. Er ging auf das Hoxton Gate zu. Links lag die Sidney Bar mit hellen Fenstern. Die schäbige Fassade wurde von nackten Glühbirnen erhellt. Vor dem Eingang drückten sich ein paar billige Frauenzimmer herum. Wie man nur in einer solchen Kaschemme verkehren kann, dachte Stanley Calvin angewidert. Hier wird er eines Tages noch völlig verkommen. Man muß ihn warnen und mit Gewalt vom Abgrund zurückreißen.
„Das wäre der richtige Kavalier für mich“, kicherte eine helle Stimme neben ihm. „Der Mann hat Geld. Das riecht man. Wie wär’s Sir? Haben Sie keinen Bedarf an Liebe?“
Stanley Calvin verlor keine Zeit. Er trat in das Lokal ein. Forschend blickte er durch das Gewühl. An der Theke drängten sich ganze Horden von angeheiterten Lümmeln. An den Tischen saßen sie dichtgeschart wie die Kaninchen. Man konnte kaum noch ein freies Plätzchen erspähen. Stanley Calvin wanderte zweimal durch das Lokal, aber er konnte Reginald York nirgends entdecken. Entweder hatte er sich eben heimlich davongeschlichen, oder er hatte sich inzwischen eine neue Bleibe gesucht.
Stanley Calvin wollte sich schon wieder dem Ausgang zuwenden, da entdeckte er plötzlich ein Mädchen hinter dem Büfett. Die junge Dame musterte ihn aus erstaunten Augen. Anscheinend sah sie nicht oft solch vornehme Gäste. Sie war hübsch und sehr jung. Dem Aussehen nach mußte sie aus dem Süden stammen. Die tiefgebräunte Haut und das schwarze Lockenhaar wirkten apart und ungemein anziehend.
„Suchen Sie einen Platz, Sir?“ fragte sie mit herbem Lächeln. Stanley Calvin zauderte unschlüssig. Sollte er bleiben? Hatte es einen Sinn, hier auf Reginald zu warten?
„Kommen Sie“, sagte die junge ^ame, die eine weiße Schürze über einem raffiniert einfachen Kleid trug. „Sie können einstweilen im Extrazimmer Platz nehmen, bis hier etwas frei wird.“
Sie führte ihn in den angrenzenden Raum hinaus. Es war ein windiges Loch und verdammt ungemütlich. Auf den Tischen standen die Stühle, die Fenster waren ohne Vorhänge. Überdies war es kalt. Stanley Calvin blickte sich belustigt um. Am liebsten hätte er laut aufgelacht. Nie in seinem Leben hatte er eine so öde Gaststube gesehen.
Aber da war Nadja Orban, und sie brachte selbst in diese trostlose Bude Glanz und Wärme. Sie war wie eine seltene Blume unter giftigen Dornen. Auf keinen Fall paßte sie in diese Lasterhöhle.
„Ich suche Reginald York“, sagte Stanley Calvin verlegen. „Er ist mein Vetter. War er heute schon hier?“
Nadja Orban warf einen raschen Blick auf die Uhr. „Er kommt meist erst später“, sagte sie. „Gewöhnlich kurz vor Mitternacht. Er bleibt dann fast immer bis zur Sperrstunde.“
„Mit wem verkehrt er?“ fragte Stanley Calvin.
Nadja Orban öffnete die Tür, um etwas Wärme in den Raum zu lassen. Sie deutete auf einen Tisch in der Nähe der Theke.
„Sehen Sie das rothaarige Mädchen?“ fragte sie lächelnd. „Das ist Lucy Fox. Ich glaube, sie ist seine neueste Freundin. Jedenfalls geht er oft mit ihr weg.“
„Sonst hat er keine Bekannten hier?“ fragte Stanley Calvin zögernd.
„Doch, natürlich. Er ist ja alter Stammgast.
Er kennt hier so
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