Der Mann, der's wert ist
läßt der Meister über seinen Lehrling wissen, daß beide
morgen wiederkämen.
Am nächsten Tag darf der
Lehrling den Marmor mit einem schwach glänzenden Klarlack überziehen. Als der
Lack noch nicht ganz trocken ist, stäubt er ein weißes Pulver auf und poliert.
Und siehe da, es ist Marmor mit dem typischen Marmorglanz. Ein Traum ist wahr
geworden. Der Meister arbeitet schon am nächsten Streifen.
»Wo habt ihr das gelernt?«
fragt einer der deutschen Maler. Der Lehrling sagt: »Der Vater von meinem Chef
hat schon die Hagia Sophia restauriert. Das ist bei uns so was wie bei euch der
Kölner Dom.«
»Die Türken müssen Marmor malen
können«, sagt einer der Deutschen, »die können sich keinen echten Marmor
leisten, bei der Wirtschaftslage.«
Aber alle nennen den türkischen
Malerchef nun sehr respektvoll »unseren Marmormeister«.
Für den Marmormeister ist es
auch kein Problem, die neue Rezeptionstheke zu marmorieren. Diese Lösung ist
viel toller und billiger als meine ursprüngliche Idee, sie mit Terrazzo
verputzen zu lassen. Oben kommt eine Glasplatte auf die Theke, um die
Marmorbemalung zu schützen.
Außerdem sollen die Wände des
Kontors und der angrenzenden Bar in das Marmorstreifensystem integriert werden,
was bedeutet, daß die Tür zum Kontor marmoriert werden muß. Für den Marmormeister
ist auch das kein Problem, er kann alles zu Marmor machen.
Elisabeth rief an, sofort als
sie herausgefunden hatte, wo es die Kunstdrucke mit den Damen der
Schönheiten-Galerie gab: nicht im Museumsbuchladen, aber eine große
Kunstbuchhandlung hat alle vorrätig. Also, wann ich käme? »Wir wollen etwas
Wichtiges mit dir besprechen«, sagte Elisabeth, »wir haben interessante
Neuigkeiten zu bieten.«
Es war günstig, sofort dieses
Wochenende zu fahren. Sonntag hin, Montag einkaufen und zurück. Im Moment
klappte alles. Unser Marmormeister marmorierte die letzten Streifen, die andern
Maler strichen oben die Flure — in sonnigem Hellgelb, passend zu den Ranken und
Löwen des Läufers. Ich hatte den Marmormeister gebeten, den andern Malern
beizubringen, so wie er mit einem zerknitterten Lappen eine leichte Struktur in
die Farbe zu tupfen. Weil durch das Abtupfen die weiße Grundierung stellenweise
zum Vorschein kam, konnte das Gelb kräftiger sein, ohne aufdringlich zu wirken.
Und die gelbweiße Struktur war besser als eine einheitlich hellgelbe Wand, auf
der man jede Staubflocke sieht. Am liebsten hätte ich auch in den Fluren
marmorierte Wände gehabt, aber Rufus sagte, bei dem Arbeitszeitaufwand könnten
wir uns nicht mehr Marmor leisten. Egal, auch so war der Flur optimal. Und an
der Decke wurde vor jeder Zimmertür eine klassizistische Stuckrosette
angebracht — aus Kunststoff, dreifach überstrichen, und in die Mitte der
Rosetten hatte ich ein Loch geschnitten, da kam die Fassung rein für einen
Spotstrahler. Im Prinzip eine ganz simple Beleuchtung, trotzdem dramatisch,
weil das Licht von Tür zu Tür akzentuiert war.
Als ich zu Hause meinen
Kurzbesuch ankündigte, war erstaunlicherweise nicht Solveig am Apparat, sondern
meine Mutter. »Wir haben eine unvorstellbare Überraschung für dich«, rief sie,
»aber ich darf nichts verraten!« Es hörte sich nicht so an, als sei mein Vater
zu Frau Engelhardt gezogen.
Mein Vater holte mich vom
Bahnhof ab und verriet die Sensation: »Deine Schwester hat eine bezahlte
Arbeitsstelle!«
»Als was?«
»Als Berufsmutter.«
»Was ist denn das?«
»Das will sie dir gleich selbst
erzählen.« Mein Vater holte ein sehr kleines Päckchen aus seiner Hemdtasche.
»Soll ich dir von Solveigs Oma geben, dein Geschenk für Solveig.«
»Was ist in einem so kleinen
Päckchen?«
»Es ist Lidschatten.«
»Für eine Vierjährige?«
»Solveig ist doch eine ganz
tolle Frau«, sagte mein Vater und lachte, »vielleicht wird sie sogar noch
Annabell dazu bringen, Lidschatten zu benutzen.«
»So was würde Annabell niemals
tun!«
»Wunder gibt es immer wieder«,
sagte mein Vater.
Ich war wirklich gespannt.
Annabell erzählte die
Geschichte, als seien Wunder bei einem Kind wie Solveig jederzeit möglich. »Das
haben wir alles Solveig zu verdanken«, sagte sie ständig. Folgendes war
geschehen: Ein alleinerziehender Vater hatte über Annabells Selbsthilfegruppe
für Kindabhängige eine kontinuierliche weibliche Bezugsperson für seinen
kleinen Sohn gesucht. Das Kind hieß Tobias, sein Vater war erfolgreicher
Rechtsanwalt und hatte das alleinige Sorgerecht für seinen
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