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Der Mann im braunen Anzug

Der Mann im braunen Anzug

Titel: Der Mann im braunen Anzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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Vermögen sein nächster Blutsverwandter, ein Mann, den er kaum gekannt hatte.»
    Der Colonel hielt inne. Ein Durcheinander von Fragen und Ausrufen wurde laut. Miss Beddingfeld wandte sich auf ihrem Stuhl um, anscheinend hatte etwas ihre Aufmerksamkeit erregt. Auf ihren erschrockenen leisen Schrei hin drehte auch ich mich um. Mein neuer Sekretär Rayburn stand in der Tür. Er sah aus, als ob er einen Geist gesehen hätte. Races Erzählung hatte ihn allem Anschein nach sehr mitgenommen.
    Plötzlich wurde er unserer Blicke gewahr; er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand.
    «Kennen Sie den Mann?», fragte Anne Beddingfeld.
    «Das ist mein zweiter Sekretär», erläuterte ich. «Mr Rayburn. War bis jetzt unpässlich.»
    Sie spielte mit dem Brot neben ihrem Teller.
    «Ist er schon lange bei Ihnen?»
    «Nein, nicht sehr lange», sagte ich vorsichtig.
    Aber alle Vorsicht ist zwecklos, wenn eine Frau entschlossen ist, etwas zu erfahren.
    «Wie lange?», forschte sie.
    «Nun, ich… ich stellte ihn kurz vor unserer Abfahrt an. Ein alter Freund hat ihn empfohlen.»
    Sie fragte nicht weiter, aber sie fiel in ein gedankenvolles Schweigen. Ich wandte mich an Race, aus dem Gefühl heraus, mein Interesse an seiner Erzählung bezeugen zu müssen.
    «Wer ist eigentlich der nächste Blutsverwandte von Sir Laurence? Wissen Sie das zufällig?»
    «Ich muss es wohl wissen», entgegnete er lächelnd, «denn ich bin es selbst.»

14
     
    Annes Bericht
    In der Nacht nach dem Kostümfest fand ich, dass es nun an der Zeit sei, einen zweiten Menschen ins Vertrauen zu ziehen. Bis jetzt hatten mir die Nachforschungen auf eigene Faust Vergnügen bereitet, doch plötzlich sah alles anders aus. Ich zweifelte an meinem eigenen Urteil, und zum ersten Mal überfiel mich ein Gefühl der Einsamkeit und Hilflosigkeit.
    Ich begann zu überlegen. Zuerst dachte ich an Colonel Race. Er schien mich gern zu haben. Außerdem war er kein Narr. Dennoch zögerte ich. Er würde mir zweifellos die ganze Geschichte aus der Hand reißen. Und da gab es noch einen anderen Grund, den ich zwar nicht einmal mir selbst gegenüber zugeben wollte, aber… nein, ich konnte mich nicht an Colonel Race wenden.
    Dann dachte ich an Mrs Blair. Auch sie war sehr freundlich zu mir, obgleich das wahrscheinlich nur eine Augenblickslaune war. Aber es lag an mir, ihr Interesse zu wecken. Sie war mir sehr sympathisch. Ja, ich war entschlossen, mich ihr anzuvertrauen – und zwar sofort.
    Dann erinnerte ich mich, dass ich ihre Kabinennummer nicht kannte. Doch die Nachtstewardess könnte mir helfen.
    Ich läutete, und nach einiger Zeit erschien ein Steward und gab mir die gewünschte Information.
    «Wo ist denn die Stewardess?», fragte ich.
    «Ihr Dienst geht um zehn Uhr zu Ende.»
    «Nein, ich meine die Nachtstewardess.»
    «Wir haben keine Nachtstewardessen, Miss.»
    «Aber… aber vorige Nacht kam doch eine Stewardess zu mir, so um ein Uhr herum.»
    «Sie haben sicher geträumt, Miss. Nach zehn Uhr gehen alle Stewardessen schlafen.»
    Er zog sich zurück, und ich musste diesen Brocken erst mal verdauen. Wer war die Frau, die am Zweiundzwanzigsten nachts in meine Kabine gekommen war? Mir wurde etwas unbehaglich, als ich mir die Schlauheit und Dreistigkeit meines Widersachers vergegenwärtigte. Dann jedoch nahm ich mich zusammen und ging auf die Suche nach Mrs Blairs Kabine. Sie hatte die Nummer einundsiebzig.
    «Wer ist da?», fragte sie auf mein Klopfen.
    «Ich bin es, Anne Beddingfeld.»
    «Kommen Sie herein, Zigeunerin.»
    Kleider und Wäschestücke lagen verstreut herum, und Mrs Blair trug den entzückendsten Kimono, den man sich vorstellen kann, ganz in Orange und Gold und Schwarz gestickt.
    «Mrs Blair», sagte ich ohne jede Einleitung, «ich möchte Ihnen meine Lebensgeschichte erzählen, wenn Sie nicht zu müde sind.»
    «Ich bin es gewohnt, spät zu Bett zu gehen», erwiderte Mrs Blair lächelnd und zeigte ihre Grübchen. «Und ich freue mich, Ihre Geschichte zu hören. Setzen Sie sich, und fangen Sie an.»
    Ich erzählte ihr alles und bemühte mich, keine Einzelheit zu übergehen. Am Schluss seufzte sie tief auf. «Es ist die aufregendste Geschichte, die mir je zu Ohren gekommen ist. Aber als Erstes hören Sie jetzt endlich auf, mich Mrs Blair zu nennen. Ich heiße Suzanne. Einverstanden?»
    «Mit dem größten Vergnügen – Suzanne!»
    «Und nun zur Sache. In diesem Sekretär von Sir Eustace – nicht in Pagett, sondern dem andern, der gestern Nacht auftauchte –

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