Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)
wie das, das alles Tom vermachte, so weit Bernstein sah, aber es konnte als rechtsgültiger Vertrag betrachtet werden, mit dem sich doch einiges anfangen ließ. Und einmal abgesehen von den juristischen Formalien, was war der Wille der alten Mrs Rath gewesen?
Während er auf die Zahlen wartete, die Johnson ihm besorgen wollte, spielte Bernstein zum hundertsten Mal die Möglichkeiten, die verschiedenen Kombinationen der Umstände durch, die theoretisch zu den widersprüchlichen Dokumenten hatten führen können. Es war möglich, dass die alte Mrs Rath einfach vergesslich gewesen war, ihre Abmachung mit Schultz getroffen und vergessen hatte, ihrem Anwalt wie auch ihrem Enkel etwas davon zu sagen. Es war möglich, dass sie es ihnen bewusst nicht mitgeteilt hatte aus Angst, deren Einwände könnten schmerzhaft sein. Andererseits konnte sie auch ihrem Enkel von der Änderung erzählt und der junge Rath einfach beschlossen haben, niemandem etwas davon zu sagen, und darauf vertrauen, dass die Vereinbarung seiner Großmutter mit Schultz wegen juristischer Formalien vor Gericht abgewiesen würde – weil sie keine Namen von Zeugen enthielt, die die Unterschrift bestätigten. Und theoretisch ebenso gut möglich war es, dass das von Schultz vorgelegte Dokument eine Fälschung war, wobei Bernstein doch ziemlich sicher war, dass Schultz’ Anwälte die Unterschrift überprüft hatten, bevor sie den Fall übernahmen. Seine wahre Verantwortung, dachte Bernstein, lag darin, herauszufinden, welcher dieser Umstände tatsächlich geschehen war. Erst wenn er das wusste, wäre es ihm möglich zu sagen, welche Paragrafen in den dicken Gesetzbüchern, die die Wände seines Büros säumten, herangezogen werden sollten, um in der Sache eine Entscheidung zu rechtfertigen. Natürlich war es schwierig, die Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen, aber nicht unmöglich. In einer Kleinstadt haftete die Vergangenheit viel dauerhafter an der Gegenwart als in einer großen. Da hielten sich die Fußabdrücke der Leute länger, bevor sie ausgetreten wurden.
Der Bankdirektor schrieb mehrere Zahlen auf einen Block. »Mr Rath hat ein Sparkonto mit annähernd neuntausend Dollar, eingezahlt am 2. September, alles auf einem Scheck von einem Immobilienmakler in Westport«, sagte er. »Mr Schultz hat ein Sparkonto von annähernd achtundsiebzigtausend Dollar, hier eingezahlt über einen Zeitraum von dreißig Jahren, in unterschiedlicher Menge immer am Monatsdritten.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Bernstein erstaunt.
»Das sind die Zahlen.«
»Danke«, sagte Bernstein.
»Keine Ursache«, erwiderte Johnson. Er wusste, dass er solche Zahlen eigentlich nicht herausgeben sollte, doch in South Bay bekam jeder, der seine guten Absichten demonstriert hatte wie auch die Fähigkeit, den Mund zu halten, jede Information, um die er bat.
Bernstein ging langsam die Main Street entlang. Es war doch überraschend, wie oft Kontostände den Weg zur Gerechtigkeit wiesen. Die Zahlen, die er gerade erfahren hatte, konnten alles oder nichts bedeuten, aber immerhin befreiten sie seine Gedanken von dem Bild des treuen, verarmten alten Dieners, der vom jungen Erben übers Ohr gehauen wird. Hier war der Diener reicher als der Erbe, was zeigte, so sinnierte Bernstein, dass man sich vor seinen eigenen Vorurteilen hüten muss. Und noch etwas: Wie konnte der alte Schultz weiterhin Geld eingezahlt haben, wenn er mehrere Monate lang keinen Lohn bekommen hatte? Und warum waren seine monatlichen Einzahlungen von »unterschiedlicher Menge«? Würde ein Angestellter mit einem regelmäßigen Einkommen nicht eher monatlich die gleiche Summe einzahlen? Vielleicht hatte er sich ja seine Schecks auszahlen lassen, unterschiedliche Mengen ausgegeben und den Rest wieder eingezahlt, dachte Bernstein, aber es wäre doch seltsam, wenn ein solch willkürlicher Plan einen Butler befähigen würde, so viel anzusparen. Wie viel hatte Mrs Rath ihm wohl bezahlt? Plötzlich hatte Bernstein eine Idee. Er hatte nicht die ganze Jugend hindurch in einem Feinkostgeschäft gearbeitet, ohne etwas zu lernen.
Bernstein beschleunigte seine Schritte und ging zu Hopeland’s Grocery Store, der sich auf Luxuswaren spezialisiert hatte. Hier dürfte Mrs Rath mit Sicherheit ihre Lebensmittel bestellt haben. Er ging in das Zimmer im ersten Stock, wo Julius Marvella, der Geschäftsführer, über der Buchführung saß. »Morgen, Julius«, sagte er.
»Was machen Sie denn hier oben, Herr Richter?«, erwiderte Julius
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