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Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)

Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)

Titel: Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sloan Wilson
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Jungen, der nur einen leichten Sommermantel anhatte, den ihm der Wind um die Beine schlug. Die Kathedrale ähnelte derjenigen, die nicht weit von Marias Wohnung in Rom stand. Tom fiel ein, wie Maria zum ersten Mal mit ihm dahin gegangen war, zwei Tage nachdem er sie kennengelernt hatte und bevor er sie gut kannte – er war überrascht gewesen, dass ein Mädchen, das er in einer Bar angesprochen hatte, mit ihm in die Kirche wollte. Sie hatte darauf bestanden, und er hatte eingewilligt, hatte ihr eben den Gefallen tun wollen. Kaum war er in die Kathedrale getreten, hatte sich das geändert. Irgendwo hatte leise eine Orgel gespielt. Das Deckengewölbe war so hoch gewesen, dass es im Dunkeln verschwand. Die Luft war von Weihrauch erfüllt gewesen. An den Wänden entlang hatten lebensgroße Heiligenstatuen gestanden, die Gesichter verzückt und heiter, und vor ihnen Gestelle mit Borden voller kurzer, dicker Kerzen – auf den ersten Blick hatte das ganze Innere der Kathedrale mit unzähligen kleinen Flammen gefunkelt. Er war noch nie in einer katholischen Kirche gewesen und hatte gebannt zugesehen, wie einer nach dem anderen zu den Heiligenstatuen getreten war, eine Kerze entzündet und sie sorgfältig zu den anderen auf das Gestell gestellt hatte und dann zum Gebet niedergekniet war. Maria hatte ihn dann an die Hand genommen und zur Statue der Jungfrau geführt, wo sie ihn neben sich hatte knien lassen. Er hatte von dem schlicht geschnitzten, aber mitfühlenden Gesicht der Statue auf Maria geblickt, die neben ihm kniete und stumm die Lippen bewegte, und er hatte keine Ironie und keine Heuchelei empfunden, als er vor der Jungfrau mit einer Frau kniete, die er in einer Bar aufgegabelt hatte. Danach waren er und Maria häufig in die Kathedrale gegangen. Dort hatte er sich auch von ihr verabschiedet. Nachdem er seinen Marschbefehl erhalten und sie ihm gesagt hatte, sie erwarte ein Kind, hatte sie unbedingt noch einmal zusammen mit ihm in die Kathedrale gewollt. Und sie hatte nicht für sich gebetet – sondern für ihn. In dem Wissen, wie sehr er sich vor dem Tod fürchtete, hatte sie mit ihm vor der Jungfrau gekniet und hatte für ihn gebetet. »Wenn du gegangen bist, werde ich oft hierherkommen und eine Kerze für dich anzünden«, hatte sie gesagt. Und er hatte geweint – zum ersten Mal in seinem Erwachsenenleben hatte er geweint, als er sich von ihr verabschiedete.
    Als er jetzt an diesem Tag seines Glücks an der St. Patrick’s in New York vorbeifuhr, fragte sich Tom, ob sie wohl viele Kerzen für ihn entzündet hatte. Jetzt war er in Sicherheit, und alles wurde gut für ihn, aber wo war sie? Er hatte den jähen Drang, aus dem fahrenden Taxi zu springen, in die Kathedrale zu laufen und für sie eine Kerze anzuzünden.
    Beim Mittagessen pries Hopkins überschwänglich die Rede, und Ogden bereitete ihm sogar noch mehr Befriedigung, weil ihm Komplimente, die Tom bekam, offenkundig wehtaten. Doch die Gedanken, die durch den kurzen Anblick der verhärmten Frau mit dem dünnen kleinen Jungen im kalten Wind auf den Stufen der St. Patrick’s ausgelöst worden waren, vergällten Tom die Siegerlaune. Seltsam, dachte er, dass im Erfolg fast immer so viel Ironie liegt.
    » Eine fundamentale Verpflichtung …«, sagte Hopkins gerade.
    »Was?«, fragte Tom und brachte sich unter Schwierigkeiten zurück zu dem Gespräch.
    »Wir in der Kommunikationsbranche haben die fundamentale Pflicht, die Öffentlichkeit auf zentrale Themen aufmerksam zu machen«, fuhr Hopkins fort. »Ich finde, die Rede, die wir erarbeitet haben, ist ein hervorragendes Beispiel …«
    Tom konnte sich nicht darauf konzentrieren, und Hopkins’ Stimme schien zu verwehen. Maria , dachte Tom, Maria . Irgendwie klang allein schon der Name herzzerreißend einsam und verlassen. Ihm war, als wäre er plötzlich nachts vom fernen Echo eines Hilferufs geweckt worden.

32
    Es war am Abend des fünfzehnten September um Viertel nach acht. Der Große Ballsaal des Hotels in Atlantic City war in ein Auditorium verwandelt worden, indem man zahlreiche Stuhlreihen hineingestellt hatte. Ungefähr fünfzehnhundert Ärzte saßen dort, gedruckte Programme auf dem Schoß. Durch den Saal summten die Gespräche, die allmählich erstarben, als ein hochgewachsener, weißhaariger Arzt im Smoking ans Rednerpult am Kopfende des Saales trat. Der große Mann blieb lächelnd stehen, bis es im Raum still war. »Meine Herren«, sagte er, »heute Abend haben wir einen angesehenen Redner zu Gast,

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