Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)
verließ sein Büro selten vor sieben Uhr, und Tom hatte gespürt, wie er sich ärgerte, dass Tom zumeist früher ging. Es war peinlich, mit Hopkins’ Arbeitsstunden konkurrieren zu müssen – es war, als unternehme man einen Sonntagnachmittagsspaziergang mit einem Langstreckenläufer. Das Stereotyp des ernsten jungen Mannes, der früh kommt und spät geht, und des nachsichtigen Chefs, der mitten am Tag auf ein paar Stunden hereinschaut, um zu sehen, wie die Dinge liefen, war genau umgekehrt.
Tom spannte ein Blatt Papier in die Schreibmaschine und schrieb eine kurze Darstellung der Ursprünge des Komitees für psychische Gesundheit. Als er damit fertig war, schaute er wieder auf die Uhr. Fast noch eine Stunde bis Mittag – es war lächerlich, so unruhig zu sein. Bestimmt schaute Hopkins nie auf die Uhr, dachte er.
»Nicht die Zeit wegwünschen.«
Der Satz kam ihm abrupt in den Sinn. Wer hatte das gesagt? Das ist doch nur eine alte Redensart, dachte er. »Nicht die Zeit wegwünschen.« Auf einmal erinnerte er sich, wie er vor so vielen Jahren mit Maria in der verlassenen Villa saß, auf dieselbe Armbanduhr schaute und jede Sekunde zählte, wie ein Geizhals sein Geld zählen mochte.
Wir haben die Zeit nicht weggewünscht, dachte er. Ich darf nicht mehr an Maria denken. Zeit, dachte er – ich brauche mehr Zeit. Ich muss die Arbeit fürs Komitee erledigen, und ich muss die Jahresberichte lesen und auch unser Wohnprojekt in Angriff nehmen. Ich darf die Zeit nicht wegwünschen.
Zeit, dachte Tom. Wie viel Zeit mir wohl noch bleibt? Ich bin dreiunddreißig Jahre alt, das ist eigentlich die halbe Strecke – wahrscheinlich habe ich mein halbes Leben hinter mir. Was mache ich nun in der anderen Hälfte – im Pendlerzug fahren, Jahresberichte lesen und endlos Briefe für Hopkins oder einen wie ihn schreiben und mir etwas darauf einbilden, jedes Wochenende zu arbeiten? Soll ich eine Vollzeitkarriere als Hopkins’ Ghostwriter machen? Will ich das?
Ich weiß es nicht, dachte er. Es muss etwas dramatisch schieflaufen, wenn man anfängt, die Zeit wegzuwünschen. Die Zeit wurde uns wie Edelsteine gegeben, die wir verbrauchen sollen, und sie wegzuwünschen ist das absolute Sakrileg. Er schaute auf die Uhr und dachte erneut an Maria. Sie hatte die Uhr nicht gemocht. »Nimm sie ab«, hatte sie gesagt. »Ich will sie nicht ticken hören.«
Das war in ihrem Zimmer gewesen, nur wenige Tage vor seinem Abschied aus Rom. »Tick-tack!«, hatte sie gespottet. »Tick, tick, tick, tick, tick! Ich würde sie so gern kaputtschlagen! Und der Verschluss kratzt mich.«
Er hatte sie abgenommen und neben das Bett auf den Fußboden gelegt. Das Zimmer war sehr dunkel gewesen, und das Leuchtzifferblatt hatte wie das Auge einer Katze geglommen.
»Ich höre dein Herz schlagen«, hatte er gesagt.
»Küss mich. Ich will nicht, dass du mein Herz hörst.«
»Ich mag das Geräusch deines Herzens und deines Atems.«
Toms Gedanken wurden jäh vom Klingeln des Telefons auf seinem Schreibtisch im United-Broadcasting-Gebäude unterbrochen. Er nahm den Hörer ab. Es war Betsy. »Hallo«, sagte sie fröhlich. »Kannst du heute Abend ein bisschen früher nach Hause kommen?«
»Warum?«
»Es gibt einen Elternabend wegen der bevorstehenden Anhörung zu der neuen Schule. Da sollten wir hin – Bernstein sagt, es gehen schon Gerüchte über unser Siedlungsprojekt, und wir könnten in der Diskussion morgen darauf angesprochen werden. Deshalb sollten wir uns heute Abend die ganzen Fakten einbimsen.«
»Tut mir leid, aber ich werd’s heute Abend wohl nicht schaffen«, sagte Tom. »Ich muss heute länger hier arbeiten. Womöglich komme ich erst nach Mitternacht nach Hause. Und rechne an den Wochenenden für längere Zeit nicht mit mir.«
»Warum? Was ist passiert?«
»Nichts. Ich habe einfach nur viel zu arbeiten.«
»Kannst du das nicht ein andermal machen? Das Treffen ist wichtig .«
»Nein. Rechne nicht mit mir. Ich gehe morgen mit zu der Anhörung, aber heute Abend geht gar nichts.«
»Na gut«, sagte Betsy resigniert.
Tom legte auf und wandte sich wieder der Schreibmaschine zu. Diese Schulsache ist wichtig, dachte er – ich sollte wirklich daran mitarbeiten. Wie doch alles zusammenhängt! Wenn wir die Schule bekämen, dann bekämen wir vielleicht auch das Siedlungsprojekt durch und würden richtig Geld machen. Dann könnte ich vielleicht auch Maria finden und ihr helfen, und vielleicht könnte ich auch mit Hopkins etwas arrangieren. Vielleicht
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